Selbst in einer Region, die für rekordverdächtige Gewalt bekannt ist, sticht Ecuadors jüngste Spirale der Gesetzlosigkeit und des Blutvergießens hervor. Die tödliche Kriminalität in dem Andenstaat hat inzwischen einen historischen Höchststand erreicht. Die nationale Mordrate übertrifft die von Brasilien und Mexiko, die seit langem zu den mörderischsten Ländern Lateinamerikas zählen. Kein Wunder, dass die Zustimmungsraten von Präsident Guillermo Lasso in den Keller gegangen sind und Forderungen nach seiner Amtsenthebung laut wurden – ausgelöst durch Korruptionsvorwürfe, die den Schwager des Präsidenten mit Drogenhändlern in Verbindung bringen. (Lasso und sein Schwager haben die Vorwürfe bestritten.) Im Mittelpunkt der Probleme Ecuadors steht die unerschöpfliche weltweite Nachfrage nach Kokain. Unter anderem dank der Balkan-Banden dient Ecuador heute als Umschlagplatz und Exportzentrum für Kokain aus Kolumbien und Peru. Die Krise ist in Esmeraldas, an der kolumbianischen Grenze und insbesondere in der Hafenstadt Guayaquil, dem Tor des Landes zur Welt, akut. Die reichste Stadt Ecuadors beherbergt fünf der acht Schifffahrtsterminals des Landes und ist gleichzeitig eine der 25 gefährlichsten Städte der Welt. Im vergangenen Jahr wurden in Guayaquil 47,7 Tötungsdelikte pro 100.000 Einwohner gezählt, ein Anstieg um das Siebenfache innerhalb von fünf Jahren. Das Chaos hält an, obwohl seit Mitte 2021 sieben Mal der Ausnahmezustand verhängt wurde. Letzte Woche genehmigte Präsident Lasso den zivilen Waffengebrauch „zur persönlichen Verteidigung“, ein Schritt, der eher an Verzweiflung als an Befehl und Kontrolle denken lässt.
Einst für seine Strategie zur Eindämmung tödlicher Drogenbanden gelobt, scheint Ecuador heute fest in deren Griff zu sein. Der Anstieg der Gewalttätigkeit steht in engem Zusammenhang mit der starken Zunahme tödlicher Auseinandersetzungen zwischen organisierten Gruppen, die in Ecuador um die Vorherrschaft im aufstrebenden Kokainhandel wetteifern, was weit über das Land mit seinen 18 Millionen Einwohnern hinaus Auswirkungen hat. Angetrieben wird der tödliche Drogenhandel von neu entstehenden kriminellen Netzwerken, die eine globale Reichweite und Ambitionen haben. Nur ein erneutes Engagement der lokalen, nationalen und regionalen Behörden zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Behörden, der grenzüberschreitenden Kooperation, datengestützter Strategien und nachrichtendienstlicher Erkenntnisse kann verhindern, dass die Sicherheitskrise in Ecuador zu einem regionalen Notfall wird.
Europäische Verbindung
Die albanische organisierte Kriminalität begann in den 1990er Jahren nach Ecuador zu wandern, angelockt durch die Aussicht, sich mit den florierenden lokalen Kartellen zusammenzuschließen und durch relativ laxe Grenzkontrollen. Bis vor kurzem konnten Albaner frei und ohne Visum nach Ecuador einreisen. Diese Laissez-faire-Drehkreuzpolitik endete, als Ecuador im Jahr 2020 strengere Visabestimmungen einführte.
Etwa 33 % des in Ecuador beschlagnahmten Kokains waren 2021 für den europäischen Markt bestimmt, im Vergleich zu nur 9 % im Jahr 2019. Vor allem der Balkan ist eine wichtige neue Drehscheibe in diesem lukrativen interkontinentalen Handel (im Wert von 10 Mrd. USD im Jahr 2017), wobei albanische Banden auf beiden Seiten des Äquators eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Nach Rekordverhaftungen im Jahr 2021 steht Ecuador trotz der pandemischen Abriegelungen derzeit an dritter Stelle bei den Kokainbeschlagnahmungen (6,5 % der weltweiten Sicherstellungen), nur übertroffen von Kolumbien (41 %), wo die Kokaernte boomt, und den USA (11 %). Von den 210 Tonnen Kokain, die Ecuador im Jahr 2021 beschlagnahmt hat, entfallen etwa 96 auf Guayaquil. Der größte Teil des Kokains ist in Schiffscontainern versteckt, von denen nur etwa 8 bis 10 % kontrolliert werden. Da die Drogenbekämpfung Brasilien, Kolumbien und Peru unter Druck setzt, hat sich Ecuador zu einem bevorzugten Ziel für ausländische Schmuggler entwickelt. Dollarisierung und Korruption erleichtern den Kauf von gefälschten Dokumenten wie Personalausweisen, Pässen und Ausfuhrgenehmigungen. Die meisten der bekannten albanischen Kriminellen halten sich in Guayaquil auf, oft unter falschen Identitäten.
Die Medien auf dem Balkan sparten nicht mit Details darüber, wie albanische, kolumbianische, mexikanische und sogar russische Kartelle um die Kontrolle von Guayaquil kämpfen. Mindestens sechs Albaner wurden in den letzten zehn Jahren auf bandenmäßige Weise hingerichtet. Einigen ecuadorianischen Geheimdienstquellen zufolge rekrutieren die Albaner dominante lokale Banden als „bevorzugte Partner“, während andere Quellen sagen, dass die Albaner letztendlich die gesamte Lieferkette kontrollieren wollen. Die albanische Mafia greift auf eine Vielzahl von Tricks zurück, um Drogen zu transportieren, von der Verwendung von Scheinfirmen, um Kokain in Bananen-, Tee- und Garnelensendungen zu verstecken, bis hin zum Klonen von Zollsiegeln, um durchbrochene Container zu tarnen. Wenig davon wäre ohne ein Augenzwinkern und ein Nicken von Beamten möglich, die an der Macht sind. Der ecuadorianische Geheimdienst hat die albanische Mafia schon seit langem im Visier. Bei der „Operation Balkan“ im Jahr 2014 stellten sie fest, dass zwei Alpha-Verbrechersyndikate – die Azemi- und die Rexhepi-Bande – Hafenoperationen infiltrierten, um sich Packlisten zu beschaffen und Container für Europa auszuwählen. Die bei der Operation festgenommenen Albaner wurden auch als Finanziers und Verwalter des Systems identifiziert.
Die Operation Balkan endete mit der Verhaftung von Remzi Azemi, dem Anführer des Rings und 11 weiteren Bandenmitgliedern, darunter albanische und ecuadorianische Staatsangehörige. Die ecuadorianische Polizei und die Staatsanwaltschaft beschuldigten die Organisation, in Guayaquil Kokain für den Transport nach Europa zu lagern. Azemi entkam einen Monat später aus dem Gewahrsam, tauchte 2017 in Europa wieder auf und wurde später in Deutschland verhaftet. Azemi wird in Ecuador immer noch strafrechtlich verfolgt, unter anderem wegen des Mordes an seiner ecuadorianischen Ehefrau und dem albanisch-montenegrinischen Flüchtling Fadil Kacanic. Die ecuadorianischen Behörden haben ihre Erkenntnisse in diesem Fall noch nicht preisgegeben oder gar die Anwesenheit von Ausländern mit Verbindungen zur brutalen Balkan-Mafia eingeräumt. Zwei verschiedene nachrichtendienstliche Quellen gehen sogar so weit, dass sie von „hochrangigen“ Absprachen zwischen der ecuadorianischen Polizei und der albanischen Mafia sprechen, von der ein Bandenmitglied Berichten zufolge durch die Hand der Polizei starb. Diese Berichte bleiben zwar unbestätigt, lassen aber kaum Zweifel daran, dass Recht, Ordnung und öffentliche Sicherheit in Ecuador – und darüber hinaus – auf dem Spiel stehen.
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