Während die Radsport-Großmächte Europas die Tour de France dominierten, kam der einzige Lichtblick Lateinamerikas nicht von den berühmten „Escarabajos” aus Kolumbien, sondern von einem unscheinbaren ecuadorianischen Domestiken, der kletterte, zog und überlebte, während seine Kollegen aus den Anden kaum Schlagzeilen machten. Jhonatan Narváez kam nicht als Anwärter auf den Titel. Er kam, um zu dienen – um seinen Teamchef zu schützen, Angriffe abzuwehren und sich lange vor den letzten Anstiegen zu verausgaben. Aber irgendwo zwischen den Vogesen und den Alpen begann der 27-Jährige aus El Playón de San Francisco, mehr zu tun als nur zu ziehen. Während die meisten Helfer einbrachen und im Autobus verschwanden, blieb Narváez dran. Er hielt das Tempo auf dem Ventoux. Er schirmte Tadej Pogačar in den Windtunneln der Normandie ab. Und als die Straße anstieg, fiel er nicht zurück. Er blieb dran, kletterte weiter und hatte sich in Paris auf den 13. Platz vorgekämpft – höher als jeder Lateinamerikaner und weit über den Erwartungen. „Meine Aufgabe war es, das Tempo für Tadej zu halten“, sagte Narváez den Reportern, während er unter dem Arc de Triomphe noch nach Luft schnappte, „aber beim letzten Anstieg hatte ich noch Kraft in den Beinen.“ Es war ein kleiner Moment – ein ruhiges Finish. Aber für einen Kontinent, der es gewohnt ist, Kolumbianer um Podiumsplätze kämpfen zu sehen, war seine Leistung ein seltener Grund zum Stolz.
Kolumbiens Berg-Aura verblasst
Vor nicht allzu langer Zeit waren kolumbianische Bergfahrer die Könige der Tour de France. Die Berge gehörten ihnen. Nairo Quintana lieferte sich auf den schneebedeckten Gipfeln des Alpe d’Huez ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Chris Froome. Miguel Ángel „Supermán“ López tanzte den Angliru hinauf. Die Kolumbianer überlebten nicht nur in der Höhe – sie beherrschten sie. Das war einmal. Im Jahr 2025 konnten die einst so verehrten kolumbianischen Escarabajos kaum noch punkten. Sergio Higuita, der als nächster großer Bergfahrer gehandelt wurde, kämpfte sich ohne einen einzigen nennenswerten Angriff auf Platz 14. Einer Rubio, einst Held einer Giro-Etappe, hatte bei jedem entscheidenden Anstieg zu kämpfen und landete auf Platz 31. Santiago Buitrago glänzte kurz mit einer starken Leistung am Mont Ventoux, fiel dann aber auf Platz 40 zurück. Harold Tejada arbeitete im Schatten für Astana und schaffte es gerade so unter die ersten 45. Keine Trikots. Keine Etappensiege. Keine Tage in Gelb. Nur Zahlen, und zwar nicht die, die Kolumbien gewohnt ist.
Was ist passiert?
Ein Teil der Antwort liegt in der Wissenschaft. Europäische Teams betreiben mittlerweile Höhenlagertrainings in den Alpen und Pyrenäen, um den Sauerstoffmangel zu simulieren, der den Kolumbianern einst einen physiologischen Vorteil verschaffte. Der gleiche Höhenunterschied, der früher den Fahrern zugute kam, die auf 2.600 Metern aufgewachsen sind, sorgt nun für gleiche Bedingungen für alle. Dann ist da noch die Ernährung. Europäische Teams bringen Köche, Ernährungsberater und sogar mobile Labore mit. Einige kolumbianische Fahrer versuchen noch immer, ihr Training mit den vertrauten Grundnahrungsmitteln aus ihrer Heimat in Einklang zu bringen. „Reis und Arepas sind nicht das Problem“, scherzte ein Teamcoach hinter vorgehaltener Hand, „sondern die Zeitfenster für die Verpflegung.“ Hinzu kommen Team-Politik, lange Reisetage und die psychische Belastung, nicht um den Sieg zu fahren, sondern Pogačar in Schach zu halten, und schon wirkt die kolumbianische Mystik wie ein altes Foto – kraftvoll, aber verblassend.
Pogačars Imperium lässt keinen Raum für Fantasie
Die Krise der Relevanz Kolumbiens findet nicht in einem Vakuum statt. Sie entfaltet sich in der Ära von Tadej Pogačar, dem slowenischen Wunderkind, das mit nur 26 Jahren bereits vier Tour-Titel gewonnen hat. Sein UAE Team Emirates fährt kein Rennen, es erstickt es. Mit sieben Weltklasse-Kletterern und einem taktischen Beraterstab, der jeden Watt und jede Wasserflasche verwaltet, überlässt ihr Ansatz nichts dem Zufall – und lässt keinen Raum für Chaos. Und Chaos war einst Kolumbiens bester Freund. Quintana nutzte es, um sich in Abfahrten davonzuschleichen. López nutzte es, um seine Rivalen in vergessenen Anstiegen zu überrumpeln. Aber in dieser neuen Tour ist das Chaos verschwunden. Pogačars Team kontrolliert das Rennen vom ersten Kilometer an.
Seitenwind? Abgedeckt. Zeitfahren? Optimiert. Letzte Anstiege? Auf die Zehntelsekunde genau getaktet. „Es gibt keinen Sauerstoff mehr für Ausreißer“, sagte die ehemalige kolumbianische Legende Martín Ramírez, der heute Trainer in Boyacá ist. „Wenn unsere Jungs ihre Zone erreichen, ist das Rennen schon vorbei.“ Selbst Jonas Vingegaard, der Mann, der Pogačar einst zweimal hintereinander besiegte, kehrte dieses Jahr zurück und fand den Slowenen stärker, kühler und absolut unantastbar vor. Die alten Spielbücher sind überholt. Neue Siege erfordern Neuerfindungen – nicht nur Talent, sondern auch Daten, Unterstützung und Überzeugung.
Die Hoffnung richtet sich nach Süden, nach Spanien
Nach der Tour liegt die beste Chance für Kolumbien auf Wiedergutmachung nun in der Vuelta a España, die im August startet. Vingegaard hat seine Teilnahme bestätigt. Pogačar ist noch unentschlossen. Und genau diese kleine Ungewissheit gibt den kolumbianischen Managern einen Funken Hoffnung. Higuita verbessert sich historisch gesehen in der zweiten Saisonhälfte. Buitrago und Rubio fahren auf den zerklüfteten Anstiegen Spaniens besser als auf den langen Anstiegen Frankreichs. Wenn die Sterne günstig stehen – und wenn Pogačar das Rennen auslässt – könnte Kolumbien doch noch Fuß fassen. Aber strukturelle Probleme bleiben bestehen. Zu Hause kämpfen die Nachwuchsmannschaften mit der Finanzierung. Vielversprechende Fahrer mangelt es oft an Präsenz, Ernährung und sogar Visa, was ihre Fähigkeit beeinträchtigt, in Europa konstant mithalten zu können. Wenn sie dann endlich eine Chance bekommen, liegen sie meist hinter ihren niederländischen, dänischen oder britischen Konkurrenten zurück, die seit ihrer Jugend Zugang zu Sportwissenschaft haben.
Ironischerweise fährt der beste Andenfahrer dieser Tour – Narváez – nicht für ein kolumbianisches Team, sondern für die Vereinigten Arabischen Emirate. Sein Erfolg zeigt, was möglich ist, wenn rohes Talent mit Ressourcen gepaart wird. „Wenn wir einen weiteren Nairo wollen“, warnte Paola Sarmiento, Analystin beim kolumbianischen Radsportverband, „müssen wir aufhören, Höhenmythen nachzujagen. Jetzt gewinnt die Wissenschaft.“ Für Kolumbien ist es an der Zeit, der Wahrheit ins Auge zu sehen: Die dünne Luft wird sie nicht weiterbringen. Nur die Evolution kann das. Und wenn Narváez sich weiter verbessern und weiterhin glänzen kann, kann die nächste kolumbianische Generation vielleicht lernen, wieder die Führung zu übernehmen – nicht nur in den Bergen, sondern auch in der sich schnell verändernden Welt des Radsports.
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