Das kolumbianische Restaurant El Chato, das zum besten Restaurant Lateinamerikas 2025 gekürt wurde, verwandelt die Artenvielfalt, die Geschichte der Migranten und die Energie der Nachbarschaft von Bogotá in ein Gourmet-Theater und signalisiert damit einen Machtwechsel in den Hauptstädten Lateinamerikas, wie Traveler erstmals von der Preisverleihung in Guatemala berichtete. Der Weg zur Krönung von El Chato zum besten Restaurant der Region beginnt nicht mit einer glanzvollen Zeremonie in Antigua, Guatemala, sondern mit einem 17-Jährigen aus Bogotá, der in ein Flugzeug nach Europa steigt. Chefkoch Álvaro Clavijo verließ seine Heimatstadt auf der Suche nach der Strenge der alten Welt an der Escuela de Hostelería Hofmann in Barcelona und schloss sich einer Reihe lateinamerikanischer Köche an, die, wie Wissenschaftler der Lebensmittelforschung in Gastronomica: The Journal for Food Studies feststellten, in europäischen Küchen nach Legitimität suchten, bevor sie in ihre Heimat zurückkehrten, um ihre eigenen Traditionen neu zu erfinden.
Von dort aus wurde der Weg zu einer Tour durch die gastronomischen Zentren der Welt. Clavijo begann seine berufliche Laufbahn im Le Bristol Paris, einem der Pariser Hotels, in denen der Speisesaal fast schon eine diplomatische Bühne ist. Nach einem sechsjährigen Aufenthalt in Frankreich überquerte er den Atlantik nach New York City, wo er im Per Se kochte, einem der wenigen Restaurants, in denen ein Degustationsmenü sowohl wie eine Disziplinprobe als auch wie eine Theaterstunde wirkt. Dann ging es zurück nach Europa, diesmal zum radikalen Minimalismus des Noma in Kopenhagen, wo die globale Debatte über „lokal” und „gesammelt” Teller für Teller neu geschrieben wurde.
Die Geschichte hätte sich nach Osten fortsetzen können. Als Clavijo nach Kolumbien zurückkehrte, um ein Visum für Russland zu beantragen, wurde er dreimal abgelehnt. Die Art von bürokratischer Hürde, die viele junge Fachkräfte aus der Region vertreibt, wurde stattdessen zu einem Wendepunkt in seinem Leben. In Bogotá ansässig, eröffnete er 2017 das El Chato in Chapinero Alto, einem Viertel, das Stadtforscher im Journal of Latin American Geography als Mikrokosmos der Ungleichheit und Kreativität der Stadt beschrieben haben: steile Straßen, dichte Wohnblocks, alte Häuser, die zu Cafés und Bars umgebaut wurden, Geld und Hektik liegen hier dicht beieinander. Aus dieser Mischung schuf er ein Restaurant, das sich weigert, sich wie ein Palast zu geben.
Biodiversität, Erinnerung und die Politik eines Degustationsmenüs
Auf den ersten Blick präsentiert sich El Chato eher als modernes Bistro denn als Tempel der Haute Cuisine. Familiäre Gerichte werden über überfüllte Tische gereicht; die offene Küche im ersten Stock ist so nah, dass man die Körpersprache der Köche lesen kann. Dennoch liest sich die Speisekarte wie ein stilles Manifest darüber, was es bedeutet, im zweitgrößten Biodiversitätsland der Welt zu kochen – eine Statistik, die in umweltwissenschaftlichen Fachzeitschriften wie Conservation Biology und Biotropica zum Standardbegriff geworden ist und hier nicht als Gesprächsthema, sondern als Textur, Geschmack und Risiko zum Tragen kommt. Das neun Gänge umfassende Degustationsmenü lehnt sich stark an diese Artenvielfalt an. Es gibt Tucupí, einen Extrakt aus der Wurzel der wilden Maniokpflanze, der seit langem in Teilen des Amazonasbeckens verwendet wird; Jícama, die knackige Yambohne; und Insekten wie Mojojoy (Larven des Palmkäfers) und Hormigas culonas (wörtlich „großärschige Ameisen”), die seit langem in Regionen Kolumbiens gegessen werden, aber selten auf dieser Art von Bühne zu sehen sind. Zu den größten Hits gehören Palmherzen gepaart mit Rambutan, Kokosnuss und Seetang sowie San Pedreño-Schweinefleisch mit Brunnenkresse, Kohl und Erbsen. Diese Kombinationen haben nichts Nostalgisches im dekorativen Sinne. Sie sind vielmehr Übersetzungen, die Zutaten aus ländlichen Märkten und Waldwegen in ein Umfeld bringen, das auch in Paris oder New York nicht fehl am Platz wäre, und darauf bestehen, dass sie dorthin gehören.
Die Getränkekarte folgt derselben Logik der Sorgfalt und Kreativität. Die alkoholfreien Begleitgetränke stechen in einer Region hervor, in der Wein oft importiert und teuer ist. Ein Gulupa und Ingwer-Soda werden sorgfältig auf ein Gericht aus Cubio-Knollen, Mais und Heu abgestimmt, das von Barkeeper Andy Blanco Villamil kreiert wurde. Es ist ein kleines, aber aussagekräftiges Detail in einem Land, in dem viele Gäste keinen Alkohol trinken und in dem sich der Genuss eines Abends nicht auf eine Flasche Wein zu einem Preis in Fremdwährung reduzieren lässt. Für Reisende oder Einheimische, die keine Zeit oder kein Budget für eine vollständige Verkostung haben, hat Clavijo ein kleines Ökosystem von Optionen geschaffen. Mittags öffnet El Chato für À-la-carte-Service, sodass Gäste auf einen Teller vorbeikommen und einen Eindruck von der Energie des Ortes bekommen können. Auf der anderen Straßenseite senkt sein zwangloses Restaurant Selma (96), das täglich für Laufkundschaft geöffnet ist, die Hemmschwelle noch weiter, während seine neue Bar Ruda, die dieses Jahr eröffnet wurde, einen weiteren Zugang zum gleichen kulinarischen Universum bietet. In einer Stadt, die von starken Einkommensunterschieden geprägt ist, ist diese Differenzierung wichtig. Sie macht aus einer globalen Auszeichnung etwas, das mehr Menschen anspricht als nur die wenigen, die Wochen im Voraus ein mehrgängiges Festmahl buchen können.
Am 2. Dezember 2025 erhielt dieses Universum seine bislang lauteste Bestätigung. In Santo Domingo del Cerro in Antigua wurde El Chato während einer von The World’s 50 Best Restaurants organisierten Zeremonie zum Besten Restaurant Lateinamerikas 2025 gekürt. Das Bistro in Bogotá hatte sich stetig nach oben gearbeitet und belegte 2024 den dritten Platz und 2023 den zweiten Platz, aber diesmal war es anders. Es war 13 Jahre her, dass ein Restaurant außerhalb von Peru oder Argentinien den ersten Platz belegt hatte, was den Sieg Kolumbiens zu einem symbolischen Bruch mit einem Muster machte, das das regionale Ansehen an einen engen Korridor von Städten und Küchen entlang des Pazifiks und des Río de la Plata gebunden hatte.
Frauen, neue Städte und eine neu gezeichnete lateinamerikanische Food-Landkarte
Die Geschichte handelt jedoch nicht nur von einem Restaurant oder einem Koch. Kolumbiens Präsenz auf der Liste ist plötzlich dicht. Celele aus Cartagena landete auf Platz fünf, sein karibisches Menü verwebt Zutaten der Küste und Migrationsgeschichten. In Bogotá belegte das legendäre Leo Platz 23, der Neuzugang Afluente kam auf Platz 34, Humo Negro auf Platz 41 und Oda auf Platz 76. Außerhalb der Hauptstadt vervollständigen das Manuel (46) in Barranquilla und das Sambombí Bistró Local (98) in Medellín das Bild des Landes. Zusammen zeichnen sie die Karte einer Nation, deren kulinarische Identität weit über die Klischees von Kaffee und Arepas hinausgeht. Peru spielte weiterhin eine große Rolle. Das Kjolle in Lima von Küchenchefin Pia Léon belegte den zweiten Platz und war damit das erste Restaurant unter der Leitung einer Küchenchefin, das so nah an den ersten Platz herankam. Zwei weitere peruanische Restaurants, Mérito (4) und Cosme (10), sicherten sich ebenfalls Plätze unter den Top Ten und unterstrichen damit die anhaltende Anziehungskraft von Lima. Allerdings verschiebt sich das Geschlechterverhältnis bei der Anerkennung. Drei der sechs Einzelauszeichnungen für Köche gingen in diesem Jahr an Frauen. Aus der Dominikanischen Republik erhielt Inés Páez Nin, weithin bekannt als Chef Tita, den Champions of Change-Preis, der zum ersten Mal in Lateinamerika verliehen wurde. Ihre NGO Fundación IMA arbeitet mit Familien auf dem Land zusammen und bewahrt kulinarische Techniken, was die These bestätigt, die Wissenschaftler aus den Bereichen Ernährung und Entwicklung in Fachzeitschriften wie World Development seit Jahren vertreten: Bei Ernährungssystemen geht es ebenso sehr um Lebensunterhalt, Land und Kultur wie um Geschmack.
In São Paulo wurde Tássia Magalhães von Nelita zur Besten Köchin gekürt, weil sie in ihren Frauenküchen in der Weinbar Lita und der Bäckerei Mag Market Talente fördert. Ihre Landsfrau Bianca Mirilia von Evvai wurde als beste Konditorin ausgezeichnet. Kjolle fügte seiner Liste von Auszeichnungen den Preis Art of Hospitality hinzu, während Oda aus Bogotá unter der Leitung von Natalia Cocomá Hernández den Sustainable Restaurant Award für den Schutz der regionalen Artenvielfalt durch seine Partnerschaft mit dem Botanischen Garten von Bogotá erhielt. In einer Region, deren Wälder und Flüsse durch Bergbau, Agrarindustrie und Klimawandel bedroht sind, spiegelt diese Art der institutionellen Zusammenarbeit die auch in der Umweltforschung vertretene Auffassung wider, dass Küchen mittlerweile an vorderster Front des Naturschutzes stehen. Auch das Gastgeberland Guatemala nutzte seine Chance. Alle Augen richteten sich auf das Restaurant Ana (94) in Guatemala-Stadt, das als One To Watch ausgezeichnet wurde und in dem der kolumbianische Koch Nicolás Solanilla die Zutaten seiner Wahlheimat erkundet. Aus derselben Stadt rangierte das Sublime auf Platz 19, das neu hinzugekommene Diacá auf Platz 37 und das Mercado 24 auf Platz 42. Für ein mittelamerikanisches Land, das in Tourismusbroschüren oft im Schatten seiner Nachbarn steht, deuten diese Platzierungen auf eine kulinarische Szene hin, die bereit ist, Besucher über Ruinen und Vulkane hinaus anzulocken.
Die restlichen Plätze der Top Ten spiegeln die Vielfalt des Kontinents in einer Art essbarer Konversation wider. Während El Chato und Kjolle um den ersten Platz kämpften, ging der dritte Platz an Parrilla Don Julio in Buenos Aires, ein argentinisches Steakhaus, das zu einer globalen Referenz für gegrilltes Fleisch geworden ist. Der vierte Platz ging an Mérito, das für die Verschmelzung von Aromen aus Peru und Venezuela gefeiert wird. Der fünfte Platz von Celele festigte die Karibik als ernstzunehmenden Akteur. Boragó in Santiago belegte den sechsten Platz, und sein Küchenchef Rodolfo Guzmán erhielt den Icon Award für seine Pionierarbeit in der zeitgenössischen Gastronomie Chiles. Quintonil in Mexiko-Stadt belegte den siebten Platz, Tuju in São Paulo den achten, Cosme in Lima den neunten und war mit einem Sprung um 19 Plätze der größte Aufsteiger der Liste, während Nuema in Quito die Top Ten abrundete und sein Küchenchef Alejandro Chamorro von seinen Kollegen für den Chef’s Choice Award ausgewählt wurde.
Weiter unten in der Rangliste zeichnen Neuzugänge ein weiteres Bild des Wandels. Arami in La Paz (48) und Demo Magnolia in Santiago de Chile (31), beide 2025 eröffnet, gesellten sich zu Crizia in Buenos Aires (40) unter den Debütanten. Asiatisch inspirierte Lokale zeigen, wie lateinamerikanische Städte zunehmend den Blick auf den Pazifik richten: Shizen in Lima (62) für Nikkei-Küche, Umi (72) in Panama-Stadt als Izakaya und das japanische Restaurant Fukasawa (100) in Santiago. Insgesamt erscheinen 22 Städte des Kontinents auf der Liste, wodurch das Ranking zu mehr als nur einem Leitfaden für wohlhabende Gäste wird. Es ist in der Praxis eine Reisekarte und ein sozialer Röntgenblick, der zeigt, wohin das Kapital fließt, wohin junge Köche nach Jahren im Ausland zurückkehren und wo lokale Zutaten als nationale Symbole neu definiert werden.
Für Kolumbien ist der Aufstieg von El Chato sowohl eine persönliche als auch eine kollektive Geschichte. Es ist die Geschichte eines jungen Kochs, dessen gesperrtes Visum ihn in seine Heimat zurückzwang, und eines Landes, das langsam erkennt, dass seine Flüsse, Wälder und Märkte nicht nur Rohstoffe für den Export enthalten, sondern auch die Grundlage für eine Küche, die sich mit den berühmtesten Küchen der Welt messen kann. Wie die Berichterstattung von Traveler aus Antigua deutlich macht, wird die kulinarische Landkarte Lateinamerikas nicht mehr nur von Lima oder Buenos Aires geprägt. Von Chapinero Alto bis Guatemala-Stadt kocht die Region eine andere Zukunft – ein Degustationsmenü, ein Stadtviertel und eine hart erkämpfte Auszeichnung nach der anderen.







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