Giftig und urtümlich
Die beiden karibischen Schlitzrüsslerarten sehen einander recht ähnlich und sind auch tatsächlich eng miteinander verwandt, weshalb sie in ein und dieselbe Gattung gestellt werden: Es handelt sich um den Dominikanischen Schlitzrüssler (Solenodon paradoxus) einerseits und den Kubanischen Schlitzrüssler (Solenodon cubanus) andererseits. Beide gehören zu den grössten Vertretern der Insektenesser, wobei der Schlitzrüssler in der Dominikanischen Republik mit einem Gewicht von bis zu einem Kilogramm, einer Kopfrumpflänge von etwa 30 Zentimetern und einer Schwanzlänge um 25 Zentimeter im Mittel etwas grösser ist als der Kubanische Schlitzrüssler.
Wie alle Insektenesser sind die Schlitzrüssler «Halbsohlengänger»: Sie treten beim Gehen jeweils mit der ganzen Sohle ihrer Vorderfüsse auf, heben aber die Hinterfüsse bis zu den Zehenwurzeln an, so dass die Fersen den Boden nicht berühren. Die Vordergliedmassen sind zudem länger als die Hinterbeine und weisen fünf mit kräftigen Krallen bewehrte Finger auf. Am grossen Kopf der Schlitzrüssler fallen die rundlichen Ohren, die winzigen Augen, die borstigen Schnurrhaare und vor allem der lange und sehr bewegliche «Rüssel» auf, an dessen Ende seitlich die Nasenlöcher sitzen.
Sehr gross sind im übrigen die Speicheldrüsen der Schlitzrüssler, und dies nicht ohne Grund: Wie einige Spitzmäuse, darunter die Wasserspitzmaus (Neomys fodiens), produzieren die Schlitzrüssler einen giftigen Speichel. Das Gift, ein lähmendes Nervengift, wird in den Ausführgängen der Speicheldrüsen des Unterkiefers produziert. Die Öffnungen dieser Ausführgänge befinden sich beiderseits des Unterkiefers an den Wurzeln der zweiten Schneidezähne. Diese sind ziemlich gross und haben eine tiefe Furche auf der Innenseite, durch die der giftige Speichel wie in einem Kanal geleitet wird. (Diesem Gebissmerkmal verdanken die Schlitzrüssler ihren wissenschaftlichen Gattungsnamen: Solenodon bedeutet «Furchenzähner».) Wenn die Schlitzrüssler ihre Beute beissen, fliesst der giftige Speichel direkt in die Bissverletzung. Von Untersuchungen an «giftigen» Spitzmäusen ist bekannt, dass die Abwehrbewegungen und vor allem das Fluchtvermögen der Beutetiere schon nach dem ersten Biss jeweils merklich nachlassen.Beim Schlitzrüssler dürfte der giftige Speichel eine ähnliche Wirkung haben.
Die Insektenesser gelten in vieler Hinsicht als die ursprünglichsten aller heute lebenden Höheren (d.h. eine Placenta besitzenden) Säugetiere, und die Schlitzrüssler bilden hierin keine Ausnahme. Sie weisen verschiedene Körpermerkmale auf, welche wahrscheinlich schon für die ersten «placentalen» Säugetiere typisch waren, welche gegen Ende der Kreidezeit, vor gut 70 Millionen Jahren, aus hochentwickelten Reptilien hervorgegangen waren. Zu diesen Merkmalen gehören beispielsweise die winzigen Augen, die kleinen, kaum gefurchten Grosshirnhälften und die dafür mächtig ausgeprägten Riechlappen im Hirn (was auf einen besonders leistungsfähigen Geruchssinn hindeutet). Auch das aus vierzig Zähnen bestehende Gebiss ist mit seiner klaren Unterteilung in Schneide-, Eck-, Vorbacken- und Backenzähne sehr ursprünglich gebaut, und dasselbe gilt für die Gehörknöchelchen und das Schlüsselbein.
Alles in allem scheinen sich die Schlitzrüssler verhältnismässig wenig von der Grundform der ersten Höheren Säugetiere wegentwickelt zu haben – auch wenn sie im Laufe der Jahrmillionen einige höchst fortschrittliche «Erfindungen» verwirklicht haben wie beispielsweise die mobile Rüsselschnauze und den giftigen Speichel. Sie vermitteln uns dadurch einen einzigartigen Blick auf die Wurzeln des Säugetier-Stammbaums, geben uns also nicht zuletzt eine Ahnung davon, wie die frühen Vorfahren des Menschen ausgesehen haben mögen.
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