Als die Wolkendecke nun doch immer weiter nach Norden zog und die Wolkengrenze direkt über uns am Himmel hing wie ein abgerissener Schleier, begann es zu regnen. Wir sahen uns an, dann zum Ufer und sprangen auf. Frank sagte: “Es gibt keinen besseren Ort, einen Regen abzuwarten, als im Wasser.” Der Wind frischte auf, aber es kühlte nicht ab. Wir standen bis zu der Brust im Wasser. Meine Freunde hatten inzwischen die Badetücher unter einem aufgespannten Stoffdach ins Trockene gebracht und waren zu uns ins Wasser gekommen- lachend, mit einer Flasche Rum, aus der wir abwechselnd tranken. Ich gab die Flasche an Frank weiter, der mehr pro forma nippte als wirklich trank. Er sagte leise zwischen zwei heftigen Donnerschlägen: “Ich wünschte, Dima wäre hier.” Ich fragte ihn, wer Dima sei. Und da, am Strand von Mi Cayito, im strömenden Regen, im Nimmerland zwischen Ergriffenheit und Lebensfreude, erzählte mir Frank von Dima, vom kurzen Leben eines jungen Russen auf Kuba.
“Dimitrij, sein Name war Dimitrij, aber ich nannte ihn Dima. Er ist vor einem Jahr gestorben. Es gibt diese Solidaritätsaktion in Tarara der kubanischen Regierung. Als das Unglück in Tschernobyl geschah, wurde kurzerhand eine Aktion ins Leben gerufen, um die von der Strahlung angegriffenen Kinder medizinisch zu betreuen. Tausende Kinder wurden behandelt und viele wurden erfolgreich geheilt. Manche jedoch sind zu krank um je wieder gesund zu werden. Und manche sind so krank, dass sie Tarara nie verlassen. Dimitrij war einer von ihnen. Er wurde als Kleinkind am Ufer des Baikalsees gefunden. Seine Eltern hatten Selbstmord begangen. Sie hatten als Liquidatoren in der zweiten Welle bei den Aufräumarbeiten in Tschernobyl gearbeitet. Sie waren ein junges Ehepaar und man versprach ihnen, dass sie für ihren Einsatz allerhand Vergünstigungen bekommen würden und ein Haus, wo immer sie es wollten. Sie wollten für die Zeit nach ihrem Einsatz nach Sibirien, zum Baikalsee. Dort lebten sie zwei Jahre, bis Dimitrij geboren wurde. Er hatte von Geburt an schwere Mißbildungen. Sein Hinterkopf war sehr groß, die Lunge war ständig entzündet und seine Beine waren entstellt.
Ich lernte ihn kennen, als ich mich an einer Art zivilen Solidaritätsaktion beteiligte. Man suchte Zivilpersonen, die sich außerhalb der medizinischen Verpflegung um die Patienten kümmern sollten, die aufgrund ihrer Erkrankung nicht oder nur schwer Tarara verlassen konnten.”
Ich erinnerte mich an die spielenden Kinder mit den Ärzten am Strand von Tarara, an diesen kurzen und schmerzlichen Blick, den ich auf das Schicksal dieser Kinder werfen konnte. Der Regen wurde schwächer, das Gedonner verzog sich nach Norden, wanderte nach Florida. Wir gingen langsam aus dem Wasser zurück an den Strand. Ich bat Frank, weiterzuerzählen.
Schöne Geschichte!
Hi Jack,
Danke, das finde ich auch. In einem späteren Beitrag werde ich darauf hinweisen, dass mich Franks Geschichte zu einem Roman inspirierte, der nun fertig geschrieben ist und den ich gerade korrigiere.
Selten zuvor war mir so klar geworden, wie wundervoll es ist, dass ein Mensch größer und mehr wird, je mehr er sich verschenkt, ohne etwas dafür zu erwarten. Eine großartige Erfahrung für mich, die mir zeigt, dass man nie aufhört zu lernen und zu begreifen.