“Dimitrij wurde mein ‘Partner’. Als ich ihn zum ersten Mal sah, wollte ich davon rennen, weil er so furchtbar aussah – nicht nur deswegen. Er sah aus wie jemand, der nie etwas anderes empfunden hatte als Schmerz und Verzagen. Ich setzte mich zu ihm und redete. Ich erzählte von meinem Leben als Radfahrer, als Bruder eines Strichers, als Kubaner. Er schwieg. Und das blieb ein Jahr lang so. Ich redete, und er schwieg. Mir war oft zum Weinen, weil ich das Gefühl hatte, nicht zu ihm durchzudringen. Er lag einfach da, ich hatte meine Hand auf seiner Brust, um sein Herz schlagen zu spüren- und er sagte nichts, verzog nicht einmal das Gesicht.
Und dann, eines Tages, als wir am Strand von Tarara saßen, kam ich auf die Idee, ein Gutenachtlied zu singen. Dima gab plötzlich Geräusche von sich und ich brauchte fast eine Minute, bis ich erkannte, dass er einen Lachanfall hatte. Von diesem Tag an sprach er mit mir und wurde mein bester Freund. Er sprach wenig, weil es ihn zu sehr anstrengte. Weil es ihm Schmerzen bereitete, aber er sprach fließend spanisch und russisch und er hatte hunderte Bücher in seinem Zimmer. Er wusste soviel. Und ich fand heraus, was meine wirkliche Aufgabe war. Ich war dafür verantwortlich, dass Dimitrij Lebensfreude erfuhr. Weißt du was? Es ist mir gelungen. Dimitrij starb vor einem Jahr in meinem Garten, als wir mit Freunden zusammen saßen und grillten. Mein Bruder hatte einen dummen Witz gemacht, und Dima hatte zu lachen begonnen und konnte nicht mehr aufhören. Er ist an einem Lungeninfarkt, nein, eigentlich ist er an Lebensfreude gestorben.
Es hatte so lange gedauert und es war so mühevoll, ihn von Tarara hinaus zu bringen, ihm den Mut zu geben, nach draußen zu gehen. Als er dann den Mut hatte, war er nicht mehr zu bremsen gewesen. Er war nicht süchtig nach Leben, er wollte alles auf einmal, aber vor allem wollte er Liebe.” Ich sah Frank an. Er weinte. Ich fragte ihn: “Hat er Liebe bekommen?” Frank wischte sich übers Gesicht und sagte erstickt: “Ich habe ihm all meine Liebe gegeben.Weniger wäre nicht in Frage gekommen.” In diesem Moment dachte ich, dass es keine Frage der sexuellen Präferenz sein kann, wenn man sich wünscht, von einem Menschen wie Frank geliebt zu werden, selbst, wenn man ein Mann ist. Es wäre schlicht und einfach die Sehnsucht nach der Essenz des Lebens selbst.
Ich fragte ihn, ob ich ihm irgendwie helfen könne, ich würde gerne etwas für ihn tun. Er winkte ab und lachte: “Also ein Sandwich, das wäre toll.”
Er nahm sein Fahrrad und schob es über die Düne, ich begleitete ihn bis zur Straße. Dort besorgte ich ihm noch ein Sandwich und eine Dose Sprite. Frank packte Dose und Sandwich in einen kleinen Beutel, der am Fahrrad hing und setzte sich auf den Sattel. Ich fragte ihn: “Was wirst du tun?” Er grinste mich fröhlich über die Schulter an und antwortete: “Ich fahre nach Tarara, um mich neu zu bewerben.”
Ich sah ihm nach, bis er in der Ferne nach links abbog und verschwand. Ich stand da, trank Bier und hatte furchtbar moralische Gedanken. Einer meiner Freunde kam über die Düne um zu sehen, wo ich blieb und sah an meinem Gesicht, dass ich … also zumindest sehr bewegt war. Er fragte mich, was los sei und ich antwortete, dass da gerade einer mit dem Fahrrad nach Tarara fuhr, um sich dafür zu bewerben, für schwerkranke Kinder und Jugendliche da zu sein, ohne Entgelt, einfach so.
Mein Freund legte seine Hand auf meine Schulter, nahm mir die Dose Bier aus der Hand, trank und sagte, nachdem er verhalten gerülpst hatte: “Planet Cuba, Peter. Planet Cuba.”
Ich habe Frank nie wieder gesehen.
Schöne Geschichte!
Hi Jack,
Danke, das finde ich auch. In einem späteren Beitrag werde ich darauf hinweisen, dass mich Franks Geschichte zu einem Roman inspirierte, der nun fertig geschrieben ist und den ich gerade korrigiere.
Selten zuvor war mir so klar geworden, wie wundervoll es ist, dass ein Mensch größer und mehr wird, je mehr er sich verschenkt, ohne etwas dafür zu erwarten. Eine großartige Erfahrung für mich, die mir zeigt, dass man nie aufhört zu lernen und zu begreifen.