Von der einstigen Prinzenstadt, dem heutigen Trümmerhaufen, führen vier Bergstraßen hinauf zu den Villenquartieren ob Pétion-Ville: die Rue Lalue, das Canapé Vert, die Route de Délmas und die Route des Frères. Die Herrschaftssitze da oben liegen etwas abseits der Bruchlinie und sind sicher auch viel stabiler gebaut, obschon mein Haus und mehrere der Nachbarn in Gressier auch aus besonders dicken Betonschichten bestanden. Die Menschen die da oben überlebt haben gehören meist auch zur politischen Elite, und fanden zur Katastrophenzeit einen raschen Ausweg aus der Gefahrenzone ins Ausland und sind jetzt meist wieder zurück. Die engen Zufahrtsstraßen sind besonders steil, meist notdürftig repariert, aber morgens und abends vollkommen verstopft. Wer sich eine Zufahrt vom Wohn- zum Arbeitsort leisten muss oder umgekehrt, muss täglich mit stundenlangen Staus leben.
Am besten geräumt ist die Flughafenzufahrt. Doch auch da kann man stundenlang stecken bleiben, und dies bei besten Witterungs- und Straßenverhältnissen. Es empfiehlt sich, vor Flügen unbedingt genügende Reserven einzurechnen. Auch die Sicherheitslage ist wieder kritischer geworden als auch schon. Kidnapping und Entreißdiebstähle nehmen wieder zu, und der Sparfimmel gewisser Regierungen macht sich bemerkbar. So fanden die Fotoapparate von Ulli und anderen Reportern blitzschnell den verschlungenen Weg zu den Diebesgutverkäufern.
Die Ausfallstraßen sind die Nationalstraßen Nummern 1 bis 3, je auf die beiden Halbinseln und gegen die Dominikanische Republik hinausführend. Die letztere Nationalstraße Nr.3 teilt sich nach einigen Kilometern auch in einen Ost-Ast gegen die großen Seen, und in eine nördliche, autobahnähnliche Prachtstraße, die gegen das Zentralplateau hinaufführt. Wenn man einmal die stadtnahen Ballungsräume überwunden hat, die durchaus einige Stunden kosten können, dann geht es im Allgemeinen zügig vorwärts, wenn es der wetterbedingte Straßenzustand erlaubt.
Die spontane Bildung von Massen-Chorälen hat auch geschickte Popstars auf den Plan gerufen, von denen es in Haiti wimmelt. So ist der Rapperkönig Wyclef Jean zu einem Jugend-Idol der Welt und damit zum Multi-Milliardär geworden, auch zum offiziellen Botschafter der Vereinten Nationen für Kultur. Er engagiert sich sehr mit großen Investitionen und Stiftungen in seinem Land und organisiert entsprechende Benefizkonzerte. Das hat er nicht nur mit seinem treusten Freund und Begleiter, einem zahmen Löwen erreicht, sondern auch mit eigenen Raps die er zum traurigen Ereignis geschrieben und bekannt gemacht hat. So klingen in den Volkschorälen häufig nicht nur Kirchenmotive über Land, sondern auch rappige Songs von heute. Selbstredend, dass nebenbei durch Spruchbänder und Banner auch die sich anbietende Reklameszene gleich gebührend genutzt wird.
So fährt man entlang all dieser Ausfallstraßen stundenlang an den heutigen „Wohnquartieren“ der ursprünglichen Bevölkerung der Prinzenstadt vorbei, die ja gegen 2 Millionen Köpfe zählt. Sozusagen alle haben ihre steinernen Wohnquartiere verloren und hausen jetzt in unermesslichen Zeltstädten, die Regierung und internationale Truppen rund um die zerstörte Stadt aufgebaut haben. Nur wenige Zeltlager fallen durch eine militärische Struktur und eisenbandverstärkte Bandagen, eine Art „Aussenskelette“, auf. Es sind wohl die orkangesicherten Anlagen ausländischer Truppen, für die arme Bevölkerung haben die Spenden wohl nicht gereicht. Es ist kaum vorstellbar, was beim Darüber fegen der nächsten Hurrikane geschehen wird…
Das innere Stadtstraßennetz ist noch wie nach dem Beben, kaum freigeräumt, verstellt und behördlich gesperrt, und Abenteurern die einen Durchgang per Fahrzeug dennoch suchen, kann ein solches Experiment teuer zu stehen kommen, besonders da sich die Sicherheitslage auch hier drastisch verschlimmert hat. Hie und da wagen sich auch einige scheinbar Offizielle herein, wohl um zu sehen, was man denn machen könne. Das muss ja auch sein. Die Fettwänste hocken in ihren klimatisierten Karossen, begleitet von einigen Maschinengewehren vor und einigen hinter den Wagen, sie sind bestimmt die reichsten, die ohnmächtigsten und die traurigsten Menschen hier. Trotzdem weinen sie nicht, wie viele draußen auf der Straße, denn sie haben Rang und Namen zu verlieren und dürfen deshalb nicht einmal mehr Mensch sein.
Hinter ihren dicken, kugelsicheren Scheiben hören die gar nicht, was draußen überhaupt abgeht. Und es GEHT etwas ab! Dass da Schreiende oder Weinende auf der Straße stehen, kommt zwar auch vor, aber es sind meist Weiße. Die Ärmsten der Armen, die wirklich Getroffenen, haben bestimmt die ersten Tage auch geschrien und geweint. Doch dann haben sie sich ins Unvermeidliche geschickt und heute singen und beten sie, in ganzen Quartieren, in Massenchorälen, zu tausenden, Tag und Nacht, fast wie bei einem Fussballmatch. Das ist für mich das größte Wunder, in all dem Leid das Positive zu entdecken, diese ungeheure Lebenskraft zu spüren, die in diesem Volke steckt.
An meinem eigenen Wagen wird seit bald 6 Monaten repariert, es ist halt keine klimatisierte Staatskarosse, und jeden Tag tröstet man „Morgen wird es fertig sein“. Heute glaubte ich das wieder einmal, aber es kam auch technisch nicht dazu – der Wagen lief wieder nicht an. Und als ich das Vorhaben, zur Hauptpost hinunter zu fahren, gar bekannt gab, hörte ich „Bist Du wirklich lebensmüde“, dieses Gebiet gehöre zu den für Weiße absolut tabuisierten…
Taxi, Taptap, Töfftaxi & Co. bieten zwar einen gewissen Ersatz, wenn man sich auskennt und nicht zu hohe Ansprüche stellt. Und wenn man derart stecken bleibt, ist man ja auch rasch wieder draußen, und ohne zuverlässigen Begleiter unternimmt man ohnehin nichts. Die weißen, „Obama“ genannten Überlandbusse sind relativ zuverlässig, komfortabel und preiswert, verkehren aber nur auf langen Überlandstrecken. So könnte man die Ferne wenigstens noch einigermaßen entdecken. Aber mit Verpflegungs- und Unterkunftsmöglichkeiten ist da auch nichts, es gibt nirgendwo Strom oder Restaurants, und Hotels meist nur zusammengestürzte.
Am besten lösen das noch Überlebenskünstler wie Ulli und andere Schreiberlinge, die in Wanderschuhen ihre täglichen Kilometer zurücklegen, meist sind es Dutzende, und erst noch am schnellsten. Die Fotoapparate sind ihnen längst gestohlen, und mit Schlafsack und Zelt lassen sich ihre spannenden Artikel auch nicht mehr glaubhaft bebildern.
Leider kein Kommentar vorhanden!