15. Januar 2010, die dritte Nacht im Himmelsnest. Himmelsnest weil jetzt nur noch Himmel über mir ist, und der wird, nach meinem Glauben, nicht einstürzen. Ich liege etwas unter dem gestrigen Bauplatz, dem Kulminationspunkt einer Erosionskrete in den Schwarzen Bergen, zum Glück hoch über der Prinzen- die zur Totenstadt wurde, auf einem leichtgeneigten, steinigen Platz zwischen dem Haus Melissas und dem des Pflanzendoktors Exume, aber in „sicherer“ Entfernung. Ihr Haus ist teilweise eingestürzt, und das Eintreten ein Risiko.
Ich wurde hier festgenagelt, weil ich noch vor dem Erdbeben in der Stadt einiges zu erledigen hatte. Unter anderem war Piti, mein Automechaniker, unten auf der „Brücke“, der Endstation für Autos, am Ersetzen der Kupplung. Die hatte er ausgebaut und war in der Stadt am Erstehen einer neuen, als die Katastrophe loslegte. Wir haben nie mehr von ihm gehört, das Schlimmste ist zu befürchten. Dies kann bedeuten, dass wir monatelang ohne Kupplung und ergo ohne Auto bleiben, denn eine Kupplung wird sich im ganzen Land kaum mehr auftreiben lassen, auch die Ersatzteillager liegen unter Trümmern.
In unserem Nest befindet sich unter anderen die Familie von Melissa und ihrem Mann, Mystal, soweit sie in der Nähe waren, den Zugang schafften und noch leben. Majorie, die Schwester von Melissa, schaffte es nicht mehr. Sie wurde unterwegs von einer einstürzenden Mauer begraben, befreit und nach ein paar Tagen hierher geschleppt, und ist schwer verletzt. Wohl mehrere Knochenbrüche und Schlimmeres. Sie lässt sich kaum berühren, ich habe nur wenige Schmerztabletten bei mir und Transportmöglichkeiten fehlen, zudem sind auch die Ärzte betroffen und werden per Radio gesucht. Sämtliche Medizinstudenten ab 2.Studienjahr, auch aus den Nachbarstaaten, werden gebeten, sich im Universitätsspital zu melden, das teilweise zerstört und wie alle anderen Spitäler total überfüllt ist. Melissa hat sich beim Aufklappen eines eisernen Klappbettes für mich einen Finger abgeklemmt, er hängt noch knapp herunter und verursacht unsägliche Schmerzen.
Eine Schwester von Mystal ist mit ihren Kindern und der ganzen Familie unter den Trümmern gestorben. Im Radio wurden alle Autobesitzer gebeten, zu versuchen die Stadt zu erreichen; alle Särge waren ausverkauft, an Verteil-Stellen werden schon als Ersatzsärge abgegeben, und die Autofahrer sollen Leichen zusammensammeln und an publizierten Sammelstellen abgeben, denn die Stadt sei unbewohnbar und seuchengefährdet. Tiefer gelegene Stadtteile sind infolge des gestiegenen Meeresspiegels überflutet, und hunderttausende von Kadavern schwimmen in den Fluten und sollen einen fürchterlichen Gestank und eine enorme Seuchengefahr verbreiten. Aber die Straßen sind zerstört, und die Autobesitzer werden die Stellen kaum erreichen.
Die Märkte sind überflutet und eingestürzt, und bevor sie gesichert werden konnten, geplündert. Nichts ist mehr erhältlich. die Preise sind am Explodieren, für Lebensmittel, für Wasser, für alles. Die Ereignisse überstürzen sich, rascher als ich schreiben kann. Die letzten Computerbatterien sind am Aussetzen, ich schreibe von Hand, und eben hat auch das Radio ausgesetzt.
Wenn Sie glauben, damit sei Stille in den Trümmern eingekehrt, täuschen Sie sich. Im Gegenteil, wir haben jetzt Zeit zum Hören und Entdecken. Wir entdecken, dass jede Nacht ihre eigene Klangwelt besitzt, und das setzt sich auch fort. Einzig das Dröhnen und Knattern der Flugzeug- und Helimotoren setzt sich pausenlos fort, Tag und Nacht, man gewöhnt sich daran. Aber während in den ersten beiden Nächten noch die Schreie der Verletzten und Verängstigten, der Suchenden und Hinterbliebenen, der Kinder und der Verzweifelten dominierten, wurden es zunehmend Gebete und Gesänge. Sie erklangen auch von benachbarten Nestern und ließen auf die jeweiligen Religionen schließen. Was noch lebte, wurde zur Kirche. Und sang.
Die Stimmung war unbeschreiblich, schaurig, traurig, und doch irgendwie schön. Man hörte und spürte, dass die ganze Welt hier war, am Helfen war. Wo noch zu helfen war. Bald begannen sich allerdings schreckliche Misstöne in die Trümmerklänge zu mischen. Es wurde immer häufiger geschossen, oft in nächster Nähe. Als das Radio noch funzte, hatten wir gehört, dass über 6000 Schwerverbrechern die Flucht gelungen sei. 10’000 UNO-Soldaten und -Polizisten waren auf der Jagd nach ihnen, und nochmals doppelt so viele kamen aus den USA, aber die hatten unten genügend zu tun. Dort wurde auch unser Freund Etienne erschossen, als er uns in Gressier besuchen wollte. Aber das hörten wir erst später. Nach den Montagnes Noires kamen nur die Pistolenhelden, und die Angst vor diesen war grösser als die vor den Erdstößen, die uns immer noch durchschüttelten.
Trotzdem gerüttelt und geschossen wurde, war es wie in einer Kirche. Einer Kirche ohne Geistliche. Man hörte, es gäbe keine Geistlichen mehr. Die hätten alle in den Kirchen Zuflucht gesucht und gebetet, und seien verschüttet worden.
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