Es ist der 12. Februar, einen Monat nach der großen Katastrophe. Wir haben die Flanierereien im schicken Universitätsviertel und all die Flüchtlinge vor dem Hoteleingang zurückgelassen und werden dies in Kürze auch mit der Schreckensinsel so halten. Die üblichen Flughafenerlebnisse sind nach all dem Erlebten fast uninteressant. Mit uniformierten Flughafenwachfrauen sind sie hier gängig; allerdings konnte ich diesmal ohne unzüchtige Betastungen passieren (Sie haben davon gelesen), dafür wurde Melissa hinter mir gedemütigt und in neue Schrecken versetzt: die Ordnungshüterin konnte nicht glauben, dass eine Haitianerin ein Visum erhalten hatte. Das sei nach offizieller Version völlig unmöglich und könne nicht mit rechten Dingen zugegangen sein.
Melissa reiste nicht als Flüchtling oder Touristin, sondern als meine Reisebegleiterin und Pflegerin, also unter „Motif Professionnel“. Das gilt ja auch seit zehn Jahren, und das ist so vermerkt im Visum. Die stattliche Dame im Flughafen „Las Americas“ in der Dominikanischen Republik aber konnte das nicht glauben, sie betastete das Visum und den Kontrollstreifen immer wieder, wie wenn sie etwas davon verstehen würde, und bot mir nicht einmal einen Stuhl zum Sitzen, es gab ja auch weit und breit keinen solchen. So stand ich halt wie nicht abgeholt draußen und wartete, wartete, wartete. Schließlich verschwand sie mit Melissa zu ihrem Chef, es fehlten nur noch Handschellen. Der kannte ja wohl auch nur Spanisch, aber der hätte sie recht angedonnert, Melissa hatte das auch ohne Spanisch verstanden und stieß endlich wieder zu mir.
Da für Air France eine Stunde Abflugverspätung angesagt war, erhielten wir einen Kaffee-bon und fanden uns in einer Bar ein. Hier trafen wir einen interessanten Gesprächspartner. Der Belgier war ein höherer MINUSTAH-Vertreter und hatte Erdbebenerfahrung aus der ganzen Welt. Er konnte uns auch erörtern, was wir seinerzeit an unserem zusammengestürzten Haus falsch gemacht hatten und was für erdbebensicheres Bauen angezeigt wäre. Augenblicklich ist seine persönliche Geschichte interessanter. Der Mann hatte sein Büro im fünften Geschoss des Hotel Christopher, des UN-Hauptquartiers. Er spürte 25 Minuten vor dem Beben eine unerklärliche Unruhe und starke Nervosität, die ihn bewog, das Gebäude zu verlassen und in sein Wohnhaus zu gehen um vermeintlich auszuruhen. Das rettete ihm das Leben, denn seine 84 Kollegen, die im Christopher geblieben waren, waren tot und viele verletzt. Auch sein Privathaus stürzte ein, und auch unser neuer Freund war zweimal leicht verletzt. Er flog jetzt in seine belgische Heimat und will in etwa drei Wochen wieder zurückkehren, dann können wir auch Verbindung aufnehmen.
Schließlich war auch die Abflugverspätung vorüber, und bevor wir das Flugzeug betraten, suchten wir die warmen Kleider zusammen, die wir ergattert hatten, denn in Europa herrschte eine erbarmungslose Kältewelle. Als seinerzeit Melissa unser einstiges Haus besucht hatte, entdeckte sie einen grünen Lodenmantel, der aus den Trümmern schaute, der war natürlich dabei. Etwas ähnlich Gutes und Warmes gab es in den Tropen nirgends zu kaufen, und so kam es, dass ich mich verschämt in den löcherigen Mantel zwängte. Die Spuren der Trümmer waren unübersehbar, und ich war eigentlich noch nie in Löchern herumspaziert. Aber es war ja dunkel, und vielleicht hat das bis Paris niemand bemerkt.
Ich fühle mich wie auferstanden, und wir fliegen lebend gegen den Himmel, rüber ins kalte Europa.
Ab morgen bin ich dann aber wieder für Sie da, wenn wir in Zürich gelandet sind und die todsicheren Computerprobleme gelöst haben.
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