Die kleine Bezirkshauptstadt Mirebalais liegt im Innern der Insel. Sie ist über Bergstraßen und war bis heute auch durch das breite Artibonite-Tal zugänglich, denn heute sind Brücken eingestürzt. Eine luxuriöse Autostraße soll zudem bald aus der Prinzenstadt hierher führen. Ab hier wird es dann hart und löcherig, Schotter-Schüttelstrecken wechseln mit bodenlosen Schlammbädern, je nach Laune der Wettergötter.
Hie und da hottern wir an einem malerischen Dörfchen vorbei, mit Hütten aus Palmblättern, einigen Speichern auf Ständerbeinen und Parkplätzen mit vielen Eseln, Maultieren und Pferden. Pferdetaxis stehen bereit. Sie sind mit kunstvoll geflochtenen Sitzen gesattelt und warten auf Gäste, ein gutes Stück netter als die sonst hierzulande üblichen Motorrad-Taxis. Ich hätte fast Lust, meinen Autositz einzutauschen und in einem Rösslisattel abzutauchen, in unbekannte Paradiese von Haiti.
Altersheime gibt es hier nicht, auch nicht nötig. Die Alten dürfen bei der Familie bleiben, über den Tod hinaus. Denn ihre Gräber liegen im Garten, neben der Hütte. Immer noch bei der Familie. Wir fahren an einer Totenstadt vorbei. Der Nekropole für eine ganze Sippe, etwas abseits des Dorfes. Die vorn offenen Schächte sind für zukünftige Tote bestimmt, jeder für einen andern. Ich habe auch einen, den mir die Familie meiner Frau vorbereitet hat, natürlich ohne mich zu fragen. Ist mir eigentlich egal, aber rührend. Da werden die Särge hineingestoßen, und der Schacht wird zugemauert. Endgültig. Die austrocknende Hitze erlaubt das.
Der Artibonite-Fluss ist mächtig, und manchmal zerstörerisch. Die seitlichen Hügel treten näher und werden steiler. Schließlich sind sie so hoch und treten so nahe zusammen, dass in den 50er und 60er-Jahren die USA eine imposante Gewichtsstaumauer zur Hochwasser-Regulierung mit Wasserkraftwerk bauten, das seit 1971 rund 173 Megawatt elektrischer Energie liefert. Die Staumauer ist die mächtigste auf der ganzen Hispaniola-Insel.
Wenn die geplante N3 für normale Fahrzeuge einmal zumutbar sein wird, bildet die Péligre-Talsperre mit dem aufgestauten See eine erstrangige Touristen-Attraktion. Der See erstreckt sich über mehrere Kilometer Richtung der dominikanischen Grenze und ist der zweitgrößte im Land. Schon heute bietet die Holperpiste fast jeden Meter wieder neue packende Ausblicke.
Das Turbinenhaus liegt am Mauerfuß. Das „Unterwasser“ bildet zusammen mit dem Überfluss – ja das gibt es auch in Haiti! – den Artibonite. Drei gewaltige Schleusentore können geöffnet werden, die Wassermassen donnern zur Tiefe und setzen eine kilometerlange Flutwelle in Marsch. Der Wärter erzählt mir, das letztemal hätte diese Flutwelle einige Damen mitgerissen, die weiter unten am Fluss Wäsche geklatscht hätten. Eine der Damen sei getötet worden. Es gäbe da meterlange Fische, und ein solcher hätte ihr eine Brust weggerissen. Ich kann die Geschichte nicht überprüfen, weiß nur dass hier vieles makaber ist.
Ein zunehmendes Problem ist die Verschlammung des Sees, die durch den üblichen Raubbau am Holz und die damit verbundene Bodenerosion verschärft wird. Über Jahre hat man das geschehen lassen, ohne gegenzusteuern und das Seebecken intensiv zu reinigen. Ursprüngliche Tropenvölker halten eben von Systempflege nicht viel.
Zahlreiche Siedlungen liegen auf der anderen Seite des Beckens und können nur noch in Booten erreicht werden. Die oft stundenlangen Fahrten über den See sind nicht minder gefährlich als die der berühmten Boat-People übers Meer. Ich beobachtete einen starken Verkehr von Einbäumen und primitiven Holzbooten, die meist überladen sind wie alles in Haiti.
Unser Ausflug zum Péligre-See hat es wieder mal gezeigt: Auch in Haiti gibt es Paradiese. Unmittelbar neben der Hölle. Man muss sie nur finden.
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