Nein, das war kein Traum. Soeben „hat es“ geschossen, ganz nah. „Es“ schießt wieder jede Nacht. Gut, dass es dann dunkel ist. Sogar die Hunde haben sich an die Knallerei gewöhnt, sie kläffen nicht. Das ist beruhigend. Die Menschen hier „lösen“ ihre Probleme noch mit Gewehren. Sie haben es nur so gelernt. Gestern sogar geschehen bei einem Fußballmatch. Ein Spieler der Gastmannschaft wurde angeschossen, es gab eine Schlacht und viele Verletzte. 2 Camions Polizisten kamen zum Einsatz. Der Nachtwächter mit seinem Lied tönt zwar archaisch-romantisch und meint es gut, bringt aber für die Sicherheit so wenig wie nichts.
Seit geraumer Zeit knallt es nachts fast regelmässig. Da steigt Aneschka zu uns herauf, ein junger Polizist, der uns hier „schützen“ will. Jeden Abend. Das ist wirklich ein bewaffneter Engel, ja, hier sind sogar Engel bewaffnet, sie knallen. Zwar gut gemeint, aber sicher nicht nötig, denn wenn es dunkelt, werden die Stahltüren verriegelt und verschlossen. Und die sind ziemlich kugelsicher. Aneschka nimmt den Schlaf ohne Bett, auf dem harten, nackten Boden, in Kauf und wähnt „den Blanc“ zu schützen, die Knarre schussbereit in seiner Hand, oder neben ihm entfallen auf dem Boden. Das einzige Zimmer neben „meinem“ fasst ja runde zehn Personen, da kann sich wohl noch ein Polizistchen dazwischen drücken.
Wenn alle weg gehen, schliessen sie mich ein. Auch vom Dach her. Bisher waren selbst Haustüren noch unverschlossen. Nach Truitiers kann man nicht mehr ohne Polizist. Da ist unsere Bank. Ich möchte Lilin etwas bringen. Wir treffen uns in einem Restaurant. Auch nach Carrefour kann man nicht mehr. Alles „zu gefährlich“ …
Allein ist niemand mehr unterwegs. Fremde gibt es schon gar keine mehr. Deutsch übernimmt wieder seine Funktion als Schutzsprache. Weil es niemand versteht. Die Knallerei versteht jeder. Es sind wohl meistens übermütige Wächter der Reichen, die „Feuerwerker“, selten hört man von einem Todesfall. Aber ich schliesse mich lieber ein, sicher ist sicher.
Aber mitnichten darum geht es mir in dieser Geschichte. Heute hab ich bemerkt, wie sich Aneschka auch um Texte kümmert, in Sprachen, die er gar nicht kennt. Fast verschämt hat er mir heute abend eröffnet, es sei ihm sowohl in französischen als in deutschen Texten aufgefallen, dass ich das Wort „Kokorat“ anwende. Dieses Wort hätte einen schalen Beigeschmack, menschenverachtend, unwürdig und sei deplaziert. Also bestimmt das Gegenteil von dem, was ich eigentlich fühle und wollte. Bestimmt werde ich es in meiner, für das „Volksfest“ im Dezember schon in Vorbereitung befindlichen KREOLISCHEN Rede ersetzen, aber in all den Pamphleten die schon monatelang unterwegs sind wird es stehen bleiben, umsomehr als die Zielgruppe ja Deutschsprechende sind.
„Kokorat“ klingt zwar herzig, aber ich bin dem Klang auf den Leim gegangen. Natürlich werde ich in Zukunft nur noch von „Strassenkindern“ sprechen. Nichts würde mir ferner liegen als eine soziale Abstufung. Ich bedaure das zutiefst, wenn es schon geschehen sein sollte.
Was mich fasziniert, ist die Lesefertigkeit, Aufmerksamkeit und Feinfühligkeit eines Polizisten, für den man gemeinhin ja nur Witze und schlechte Worte übrig hat.
…ach Ottie, danke für Deinen Artikel. Bitte bedenke jedoch, dass das Risiko zu Schaden zu kommen in Santo Domingo, Kalifornien und selbst in Washington höher ist, als in Port-au-Prince.
Wir haben uns in Haiti immer sicherer gefühlt als zu Hause in Berlin oder in NY, Miami und Paris. Es ist schade, dass Du mit Deinem Artikel dieses schöne Land so deklassierst. Das ist nun wirklich nicht Dein Stil!
Ich freue mich auf weitere Artikel von Dir. Bis dann und herzliche Grüße von Michael
….wenn schon Otti schreibt, es knallt, – dann knallt es wirklich und unüberhörbar.
Tatsachen-Beschreibung ist gleich „deklassieren“ ???
Andere ‚Unwissende‘ somit in’s Messer laufen lassen ??
‚National-Geographic‘ ist eines, Otti ist ein Anderes.
Ja, ich kenne Haiti, auch aus den frühen 70ern recht gut und mir ist Otti und seine Geschichte ebenfalls recht gut bekannt.
Glaubt bitte nicht, die ‚Tontons‘ wären sämtlich nach Florida entschwunden…;
‚Kokorat‘ ist allerdings eine nicht sehr liebevolle Bezeichnung der Strassenkinder, nicht nur in Haiti nicht. Aber warum sollte ich deshalb Otti anmorsen ? Ihm sind die Verhältnisse dort besser als uns Allen bekannt. Ich schreibe ihm auch sein Frühstück nicht vor. (Ausser vielleicht in Leipzig ? ;-) )
Lieber Otti, gerne schauen wir uns immer wieder Deine Berichte / Kolumnen an und wissen :
DU LEBST , in jeder Beziehung. Mach weiter so ! Herzlichen Gruss in die Runde- Dagmar & Klaus.