Mein Lieblingsplatz ist auf dem Dach, da blicke ich auf das Peristyl (Tempel) des Houngans hinunter mit der rot-weiss-schwarzen Fahne, und zur Königspalme hinüber, die fast die verschiedenen Himmel ankratzt. Vor zwei Wochen etwa zeichnete sich da eine Katastrophe ab. Webervögel hatten wohl Jahrzehnte lang ihre prachtvolle Burg gebaut, bis sie zu schwer wurde und zu Boden stürzte. Niemand kümmerte sich mehr um die gefiederten Toten.
Jetzt burgen hier keine Webervögel mehr, das wird seine Jahre dauern. Aber ganz oben, wo die Königspalme am aktuellen Himmel kratzt, da spriesst ein 2 Meter langer Palmspross, der gleichsam einem gefalteten Schwert auf Einsatz wartet. Auf der obersten Spitze thront, besonders am Morgen, stundenlang ein Falk mit krummem Schnabel und prächtig leuchtendem Gefieder, das täuscht über die grausame Wahrheit hinweg. Er wartet auf leichte Beute. Den Namen kenne ich nicht, da all meine Bücher und Bibliotheken an jenem 12. Januar 2010 in Schutt und Scherben übergingen, aber über karibische oder gar haïtianische Vögel war es auch vorher gar nie bis zu Büchern gekommen.
Ich habe mir längst angewöhnt, auch ohne Bücher und Bibliotheken zu leben. Im Gegensatz zu den 316.000 Glücklosen durfte ich das ja. Ein kurzer Rückblick sei mir gestattet, der schliesslich zu einem Ausblick wird. Das erste Jahr war das schlimmste. Evakuiert wurden wir nach Santo Domingo, da es in Haïti Zivilflüge noch monatelang nicht gab. Wir alle hatten „nichts“ mehr als das Leben, aber von Santo Domingo bis Paris lauerten „Menschen“ und warteten auf leichte Beute, auch. Wir wurden ausgestohlen bis auf die Haut, und meine „Begleiterin aus Gesundheitsgründen“ musste am Ende noch monatelang in Paris bleiben, weil ihr sogar Visum und Pass gestohlen wurden.
Mir selbst wurden die Dokumente relativ rasch ersetzt, und in Deutschland hatte mich das Fernsehen ausgequetscht. Frau und Kinder blieben in Europa, sie hatten ja auch die ganze Zukunft verloren und wollten wieder bauen; ich überliess ihnen die Einkünfte aus meiner Rente. Wieder „salonfähig“ zog ich selber zurück nach Haïti, um den Ärmsten der Armen zu helfen. Mir blieb noch eine schweizerische AHV (Altersversicherung), die gab ich auch noch weg. Das sollte für die Strassenkinder eine Schule geben, damit die auch lesen und schreiben lernen.
Es folgte 2011, das erste Jahr nach dem Schreckensbeben. Mit 40 Waisen- und Pflegekindern, Müttern und Vätern die nichts verdienten und ohne Hilfe und Lehrmittel gründeten wir die „Schule in der Höhle“, das ging so ein Jahr lang. Wir lernten Lesen wo Buchstaben waren, auf Büchsen und Packungen, Bücher gab es keine. Ich schrieb Artikel im Internet und Bücher, die die Deutsche Post mit eigenen Briefmarken bekannt machte. Die Einnahmen gingen natürlich ebenfalls an die Strassenkinder, man sagt ihnen hier „Kokorat“.
2012 wurde etwas bekannter, was wir da tun, und vor allem WIE wir das taten. Aus dem In- und Ausland wurden zahllose Bücher gespendet. Aus Strassensammlungen in der Schweiz, veranstaltet vor allem von Patrick Price, kam das Geld für ein neues Schulhaus zusammen, das wurde alsbald gebaut. Zahlreiche Freunde und Gönner lasen meine Artikel und Kolumnen und spendeten Hilfsmittel und auch Geld. Namhafte Stiftungen finanzierten Zisterne und Wasseranschlüsse und die Erfolge kletterten aufwärts, dass es eine Freude war. Und heute verteilen wir das Wasser für das ganze Dorf. Wenn die versprochene Wasseraufbereitungsanlage endlich kommt, wird es sogar Trinkwasser.
2013 war das 3. Jahr dass die Schule lief, das 4. Jahr nach dem Erdbeben. Die Schweizer Sekundarlehrerin Christine Fischer sammelte zwei Container voll Hilfsmaterial und finanzierte den Transport des einen durch ein „100 Days-Projekt“ mit Hilfe zahlloser Freunde und Leser, der Transport eines zweiten Containers wurde durch die „Crupe Foundation“ finanziert. Infolge Zöllnerstreik und anderer Quärelen sind diese Container leider Ende Jahr noch immer nicht eingetroffen. Es soll „demnächst“ so weit sein.Die Schule lief trotzdem weiter.
Ein zweites Haus konnte gekauft werden und wird vorerst als Containerlager, später als vergrösserte Schule dienen. Der Schulbetrieb wird heute noch im selbst gebauten alten Schulhaus mit 150 Kindern und selbst gebastelten „Möbeln“ aufrecht erhalten. Aber es klingt so schön, als ob es heute schon 200 wären. So viel sind nämlich dann vorgesehen.
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