Das Beben beeinflusste das religiöse Verhalten der Bevölkerung grundlegend. Die Menschen sind überzeugt, dass die Katastrophe gottgewollt und Strafe für eine unsittliche Lebensweise ist. Sie wandern scharenweise in Hochregionen, im ganzen Land. Einerseits um der neuen Bedrohung durch die Überflutungen auszuweichen, anderseits um sich an geeigneten Plätzen zu Gottesdiensten zusammenzufinden. Die Hände zum Himmel gereckt, Palmwedel und Zweige aufstreckend singen und beten sie, vielfach lobpreisen sie Jesus auch tanzend. Jesus ! Jesus !
Fast alle Menschen sind überzeugt, dass das Jüngste Gericht, das Gottesgericht, das Letzte Gericht, das Weltgericht, die Nacht ohne Morgen gekommen ist, das Gericht aller Lebenden und Toten. Die Menschen sitzen in der Finsternis zusammen und singen: klagende Glaubenslieder in kreolischer Sprache und Musik nach ihrer Tradition.
Und man betet, die ganze Nacht. Schon seit drei Monaten in Folge wird gebetet, Ein Name schwingt auf allen Lippen. Jesus ! Jesus ! Wir haben zu viel gesündigt, das ist die göttliche Strafe. Bereut! Eine solche Prüfung kann nur eine Strafe Gottes sein, der unsere Sünden leid ist. Es ist schwer, das aus den Köpfen zu bekommen, schwer, nicht an einen Fluch zu glauben. Besonders da neunzig Prozent der christlichen Kirchen in Schutt und Asche liegen. Der Kampf des Guten gegen das Böse. Auch der Erzbischof von Port-au-Prince hat den Tod gefunden. Die Loas, die Götter des klassischen Voudou, bieten keine Erklärung für das Geschehene. Der Voudou-Glaube ist in den Untergrund verdrängt. In den Augen der Menschen hat Voudou versagt, die Traditionsreligion hat tausende verloren. Selbst bekannte Voudou-Priester bekennen sich öffentlich zum christlichen Gott, vor allem zu Jesus. Da lässt sich das Entsetzliche besser erklären; die christlichen Religionen beantworten Sinnfragen und bieten Trost. Es gibt nicht mehr viele Kirchen; die Berge sind zu den Kirchen geworden.
Auf der Jagd nach unsinnigen Zitaten im Internet finden sich Stilblüten und Plattitüden, von denen ich einige wiedergeben möchte. Fundamentalisten glauben, die Insel werde von Satan beherrscht. Das sei auch der Inhalt einer geheim gehaltenen Prophezeiung der portugiesischen Nonne Fatima sein, die „ägyptische Plagen“ über Haiti hereinbrechen sah. Religiöse Propheten nehmen eine göttliche Inspiration in Anspruch; doch zwischen den metaphysischen und den physischen Erklärungsmodellen, oder den beiden Hirnhälften, wenn Sie so wollen, breitet sich eine Welt aus, eine Welt von Vorstellungen und oft unsinnigen Theorien. Doch was ist Sinn und was Unsinn? Da wird’s persönlich, auch irgendwie metaphysisch.
Als so geborener Europäer und fast Nordländer löse ich die Probleme eher mit der anderen Hirnhälfte. Zu meiner Zeit haben die beiden Hirnhälften eben eine sehr unterschiedliche Rolle gespielt. Ich habe doch immer wieder versucht zu zeigen, wie Natur wirkt, in ganz anderen Dimensionen und Zeiten.
Auch die moderne Annahme, dass sich Erdbeben künstlich erzeugen ließen, halte ich für Unsinn: Erdbeben entstehen durch sich entladende Spannungen und sind ein Naturereignis. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez beschuldigte in einer Pressemitteilung des Fernsehsenders ViVe TV die Vereinigten Staaten, dass diese wahrscheinlich eine „Erdbeben-Waffe“ – dargestellt durch das HAARP-Projekt – besitzen, mit der sie die Katastrophe ausgelöst hätten. Kurz zuvor hatte Chávez persönlich erklärt, die USA hätten das Beben zur „Invasion und militärischen Übernahme Haitis“ genutzt. Das HAARP (engl.: High Frequency Active Auroral Research Program) ist ein US-amerikanisches ziviles und militärisches Forschungsprogramm, bei dem hochfrequente elektromagnetische Wellen zur Untersuchung der Ionosphäre eingesetzt werden. Betrieben wird die Anlage nordöstlich von Gakona in Alaska von der University of Alaska und 13 weiteren Universitäten, der US Air Force und der US Navy. Verschwörungsextremisten sehen Zusammenhänge zwischen dem Betrieb der HAARP-Anlage und weltweit stattfindenden Erdbeben und Vulkanausbrüchen.
Und dann erst die Astrologen: „Die Planeten hätten durch ihre Stellung das Erdbeben erzeugt. Man kann zwar sehr leicht ausrechnen, das die Stellung der Planeten keine relevanten Änderungen in den Kräften verursacht, die auf die Erde wirken – aber wer mit „holografischen Effekten“ argumentiert, der ist davon wohl nicht zu überzeugen.“
„Ach ja – es war also die „Energie des Perihels“, die das Beben verursacht hat. Komisch nur, dass die Erde jedes Jahr im Januar ins Perihel tritt – warum gibt es dann nicht auch jedes Jahr ein gewaltiges Beben?“ Und deshalb werden auch die 2012-Propheten wieder behaupten können, recht zu haben – sie hätten es ja immer gesagt.
„Nur weil Saturn so langsam war, war das Beben so tragisch. Dass die Planeten ihre Geschwindigkeit in Wirklichkeit nicht so stark ändern wie in den geozentrischen Horoskopen, stört einen Schreiberling überhaupt nicht. Die Astrologen faseln ja auch dauernd von Planeten die stehen bleiben, retrograder Bewegung und anderen Erscheinungen, die nur im Horoskop passieren, aber nicht in Wirklichkeit.“
„Aber manche Astrologen meinen, sie können es – und tun es dann doch nicht! Wahrscheinlich sind sie zu beschäftigt damit, Geld an Telefonhotlines zu verdienen… Und außerdem nimmt die Astrologen doch sowieso niemand ernst, oder? Was bringt es da sich mit Erdbebenprognosen zu beschäftigen, die niemand glaubt.“
Der Unsinn der Orakelerei und Wahrsagerei war schon im Alten Ägypten bekannt, „Fachleute“ deuten zufällige Ereignisse nach vorgegebenen Regeln, dichten sich hellseherische Fähigkeiten an, lesen die Zukunft aus der Hand, aus gelegten Karten oder aus der Glaskugel und haben keine Skrupel, aus der Jahrhundertkatastrophe Kapital zu schlagen. „Auch die Astrologen kommen pünktlich nach jeder Naturkatastrophe hervor und erklären uns, warum es ganz logisch sei, dass das passieren musste. Selbst dreihunderttausend Tote können die Astrologen nicht dazu bringen, in ihrem Welterklärungswahn zu zweifeln.“
Auch Sonnen- und sogar Mondfinsternisse mussten herhalten. Anstatt sich über eines der schönsten und beeindruckendsten Naturereignisse – eine totale Sonnenfinsternis – zu freuen, nutzen manche Menschen die Gelegenheit lieber, um Angst und Panik zu verbreiten. Durch das Beben der Stärke 7 und die damit verbundene Verschiebung größerer Massen im Erdinneren habe sich die Erdrotation verändert, und die Tage hätten sich um 6,8 Mikrosekunden verkürzt. Den Vogel abgeschossen hat aber eindeutig der US-Schauspieler Danny Glover. Über Telefon teilte er mit, dass das Haiti-Erdbeben eine Folge des Klimawandels und des gescheiterten Klimagipfels von Kopenhagen sei…
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