Ich bin ja noch nicht drüben, und ich habe noch keine Überlebensstrategie. aber fürs erste HABE ich überlebt, das schreckliche Beben. Meine zehn Nächte im Freiland-Biwak waren für mich schon eine halbe Ewigkeit. Dutzende von Erdstößen erschütterten Leib und Seele jeden Tag, und jeder neue Stoß prägte sich tiefer ein als der vorhergegangene, bis tief ins Herz. Nach den ersten überlebten Schreckensnächten kam ein zweites Trauma dazu, das mit den Schüssen. Wir wussten, dass es Schüsse der Ausgebrochenen waren, der entlaufenen Kidnapper und Schwerstverbrecher, tödliche Schüsse. Dass die schon Journalisten geblendet und Entführungsopfer zerstückelt hatten, war allen bekannt, unsere Panik übertraf noch die vor den sich dauernd wiederholenden Schüttelserien. Es war eine Hölle, ein Hexenkessel. Ich konnte nicht mehr unterscheiden zwischen den geträumten und den wirklichen Erschütterungen.
Zum Glück kamen wir weg aus der Hölle. Die Betreuung während der Evakuation war nett, aber verfrüht. Im Bus hatten wir keine Traumata, die begannen erst später in Santo Domingo. Die geringsten Geräusche, etwa von vorbeifahrenden Lastwagen, genügten, um uns in Angst und Schrecken zu versetzen. Oft waren wir versucht, hinauszulaufen ins Freie. Die Mitteilung eines Studenten, dass hier täglich etwa zwanzig Erdstöße bis zur ( unschädlichen ) Richterstufe 3 normal seien, konnte uns keineswegs beruhigen, im Gegenteil. Wenn das stimmte, zeigte es doch, dass wir immer noch in der seismisch aktiven Zone waren. Auch auf dem Flughafen träumten wir weiter.
Im Flugzeug war wieder Ruhe, wie vorher im Evakuationsbus. Aber in Flums und Paris, da blieb die angespannte Fluchtbereitschaft noch lange. Ich wohnte bei meiner Tochter Nahomie, hoch über einer U-Bahn-Linie, und das dumpfe Grollen der in der Tiefe vorbeidonnernden Züge ließ mich jedesmal zusammenfahren und glauben, die Erde bebe jetzt wieder. Dass dies zwar der Fall war, aber technisch und ungefährlich, tat dem Stress keinen Abbruch. Im Moment des Überfalls kam noch ein drittes Trauma dazu.
Nur Fremde hatten die Chance, dem Hexenkessel und seinen Traumata zu entfliehen. Millionen müssen ausharren, immer noch, ohnmächtig, dutzende weiterer Erdstöße erdulden, weitere Schüsse über sich ergehen lassen, einige davon todbringend. Dann kamen die Sturmböen, die Sturzfluten, die Schlickschwälle, Obdachlosigkeit, Kinder die ihre Eltern nicht mehr fanden, vergewaltigt und misshandelt wurden, lebensbedrohliche Situationen zuhauf und jeder Art, Millionen sind traumatisiert, lebenslang geschädigt, mit gewaltigen gesundheitlichen Folgen.
Eine andere Art von Trauma muss meine Mitarbeiterin Melissa erdulden. Nach dem ersten Trauma mit dem Erdbeben und dem zweiten mit den allnächtlichen Schießereien erlitt sie ein drittes durch den Überfall in Paris, wo unsere Pässe und alle anderen Papiere gestohlen wurden. Die Mutter von vier Kleinkindern konnte seitdem nicht mehr wie geplant zu ihrer Familie zurückreisen und bleibt heute noch in Paris „gefangen“ und träumt.
In Haiti sind Millionen von Persönlichkeiten zerstört. Die Bevölkerung lebt in ständiger Phobie, in ständiger Angst vor einstürzenden Betondecken. Zu viele Familienangehörige wurden lebendig begraben. Die Menschen erzittern bei jeder Erschütterung, bei jedem Geräusch, im ganzen Land. Sie leiden nicht nur an Unfallfolgen und körperlichen Leiden, sondern auch an allen möglichen psychisch-seelischen Krankheiten. Hunderte von Psychologen und Psychotherapeuten wurden und werden noch gesucht von der UNO, von der Regierung, Spezialisten die Kreolisch sprechen, und mit den Opfern diskutieren können. Doch solche wird es kaum ein Dutzend geben, sie müssen zuerst Kreolisch lernen.