Dass mit der kulturellen Diversifikation in Brasilien global kein Blumentopf gewonnen werden kann, ist ja durch die gängigen Klischees seit Jahren ausführlich beschrieben und abgehandelt worden. Die 500-jährige Geschichte des Landes wird aufgrund des desolaten Bildungssystems faktisch auf das Wesentliche reduziert. Fragt man den gemeinen Brasilianer, scheint sich zwischen der Entdeckung Brasiliens 1500 und der Abschaffung der Sklaverei 1888 nicht viel ereignet zu haben. Ohnehin wurde erst mit der Einführung von Nationalreligion Fußball im Jahre des Herrn 1894 und der Entdeckung des Samba „Pelo Telefone“ gut ein Vierteljahrhundert später dem gigantischen Land echtes Leben eingehaucht.
Seitdem sind keine 100 Jahre vergangen und die meisten Straßen und Plätze des Landes sind namentlich davon gezeichnet. Kaum jemand wurde dort geehrt, von dem keine Fotografie, Film- oder Tonaufnahme existiert. So hat sich Pedro Álvares Cabral seine Entdeckung wohl nicht vorgestellt. Wobei er ja der erste Biopirat der brasilianischen Geschichte war und das heute fast vollständig ausgerottete rötliche Brasilholz nach Portugal verschiffen liess. Was daraus resultierenden Gier nach Rohstoffen folgte waren Ausbeutung, Ausrottung und Auswanderer. Und letztere besannen sich erst Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts darauf, dass man Kultur vielleicht doch ein wenig bewahren könnte.
Herausgekommen sind leider bis heute fast nur Adaptionen, die es teilweise nie zum eigenen Kulturgut schafften und auch Generationen später noch als schlechte Kopie gelten. Ostern und Weihnachten sind zwei Beispiele dafür. Natürlich hat Brasilien auch einiges selbst hervorgebracht wie die alljährlichen Samba-Paraden im Karneval oder Musikstile wie Axê, Frevo oder den traditionellen Sertaneja. Selbst das „Jogo Bonito“, dass schöne Spiel im brasilianischen Fußball, soll an dieser Stelle erwähnt werden. Dass alles lose auf die Wurzeln der Einwanderer oder aus Afrika verschleppten Sklaven zurückgeht, ist selbstverständlich und soll hier keineswegs abgewertet werden. Wie könnte man auch, wenn die bestehende Kultur durch die Kolonisierung fast vollständig ausgemerzt wurde und die eigene in einem Mix der unterschiedlichsten Nationen von freiwilligen und unfreiwilligen Immigranten sich kaum durchzusetzen vermochte und von Generation zu Generation verwässert wurde.
Da ein jeder Neubürger Brasiliens etwas aus der alten Heimat mitbrachte, wurde nach und nach ganz im Sinne der Brasilianisierung die Spreu vom Weizen getrennt. Was reproduziert werden konnte, wurde angenommen – wo man auf Schwierigkeiten stieß, ein Grab geschaufelt. Nehmen wir jetzt zur Weihnachtszeit einmal den Adventskranz. Ob als Gesteck mit einer Kerze oder als Kreis mit vier Lichtern findet man ihn eigentlich nirgends. Noch nicht einmal das Wort „Advent“ ist im angeblich katholischsten Land der Erde geläufig. Und dies ungeachtet der Tatsache, dass die letzten vier Wochen vor der Geburt Christi auch in protestantischen und evangelikalen Kirchen eine wichtige Rolle spielen.
Saisonale Lichtverschmutzung mit Vorbild USA
Vielleicht liegt es ja daran, dass Kerzen und Tannenzweige in Brasilien wenig verbreitet und zudem dementsprechend teuer sind. In dem tropischen Land hat man das Fest der Liebe ohnehin amerikanisiert. Lichterketten in bunten Farben sind allgegenwärtig. Mit pompöser Festbeleuchtung kann eine Stadt landesweit berühmt werden, Millionen Besucher anlocken oder zumindest regional Reputation aufbauen. Bei einem traditionellen von der Kirche organisierten Krippenspiel bedarf es dann schon einiger Mühe, den Fotografen und Reporter der Lokalzeitung zum Arbeiten zu bewegen. „Pisca Pisca“ nennt man in Brasilien die blinkenden rot-grün-blauen Nervensägen rund um Palmen, Mangobäume oder Fensterrahmen. Die saisonale Lichtverschmutzung hat dabei natürlich die USA zum Vorbild, gemessen werden die alljährlichen Rekorde wie bei dem berühmten blinkenden und von einer Bank gesponserten Weihnachtsbaum in Rio de Janeiro allerdings in Kilometer statt in Meilen.
Zuhause zieren dann bunte 2-Euro-Einweg-Lichterketten aus China die nackten Plastikbäumchen im eigenen Wohnzimmer. Daran hängen natürlich Kugeln, Sterne oder Zuckerstangen aus Plastik. Für Baumschmuck aus Glas oder Holz gibt es scheinbar keinen Markt, aus den Materialien müssen schließlich die Bierflaschen und die Kohle fürs Weihnachtsgrillen hergestellt werden. Wobei der Festtagsbraten in Brasilien oftmals einen ganz speziellen Namen hat: Chester! Damit ist jedoch weder die Stadt in England noch der Käse gemeint. Es handelt sich dabei um den Markennamen einer vor gut 30 Jahren speziell gezüchtete Hühnerart, deren aus der Art Gallus Gallus entstandenes genetisches Profil geschützt ist. Die fetten Hühner könnten aufgrund der Größe durchaus als Pute durchgehen. Und glaubt man den Marktanalysen, sollen viele Konsumenten tatsächlich davon überzeugt sein, ein Haustruthuhn (Meleagris gallopavo) zu verspeisen.
Doch blinkende Weihnachtsdeko und Riesenhühner sind noch lange nicht der Gipfel der Ideenlosigkeit. Plätzchen, Schokolade und viele andere Süßigkeiten gehören weltweit zu Weihnachten irgendwie dazu. In Brasilien merkt man davon nichts. Hier gibt es keine Dominosteine, keine Printen oder echte Lebkuchen. Auch Schoko-Weihnachtsmänner, essbarer Baumbehang oder Adventskalender sieht man keine. In Sachen Kalorien wird Weihnachten wie Ostern auf ein einziges Produkt reduziert. Gibt es bei Tod und Auferstehung des Heilands riesige mit Spielzeug gefüllte Schoko-Ostereier zu exorbitanten Preisen, so stellt man zur Geburt des Christkindes überall Panettone in die Regale. Den italienischen Weihnachtskuchen gibt es wahlweise mit Schokolade oder kandierten Früchten und ist ebenfalls sündhaft teuer.
Die kritischen und der mangelhaften Produktvielfalt ausgelieferten Verbraucher kaufen zwar, beklagen sich jedoch immer öfter über die augenscheinliche Abzocke. In den letzten Tagen konnte man daher in den sozialen Netzwerken einmal mehr nachlesen, dass in Brasilien hergestellter Panettone beispielsweise in Tokio und Toronto deutlich billiger zu haben ist. Die Industrie schiebt die Divergenz auf die Steuergesetzgebung im Samba-Land, die Konsumenten wollen das aber in Hinblick auf die Vergleichspreise vom anderen Ende der Welt nicht so ganz glauben. Eine einfache Art Leb- und Honigkuchen über aus industrieller Produktion findet man übrigens das ganze Jahr in den Supermärkten. Hier fehlen zwar die typischen Weihnachtsgewürze wie Zimt oder Nelken, als Beigabe für den Weihnachtsteller mit selbstgebackenen Plätzchen sind sie jedoch durchaus zu verwenden.
Böllerschüsse begrüßen Jesuskind um Mitternacht
Für Mitteleuropäer darf man Weihnachten in Brasilien nach vorliegender Sachlage als durchaus langweilig bezeichnen. Für „Papai Noel“, wie der Weihnachtsmann zwischen Amazonas-Regenwald und Pampa genannt wird, ist es jedoch vor allem eine schweißtreibende Angelegenheit. Im Hochsommer bei Temperaturen von über 30 Grad trägt so mancher Rauschebart unter der dicken Jacke mit Sicherheit nur Bermuda-Shorts. Und gönnt sich nach getaner Arbeit lieber ein eiskaltes Bier als einen wärmenden Glühwein. Doch ein wenig Tradition ist auch hier angesagt. Wenn Santa Claus nicht wie im Maracanã-Stadion mit dem Hubschrauber eingeflogen wird, nutzt er auch im „País Tropical“ ganz traditionell den Schlitten. Schließlich können Rentiere ja weltweit fliegen.
Zum Abschuss aber dann doch noch eine brasilianischen Extravaganz: Geschenke gibt es für Groß und Klein um Mitternacht. Weder die aus Deutschland bekannte Bescherung an Heiligabend, noch das Geschenkeauspacken am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages wie in der ehemaligen Kolonialmacht Portugal oder den USA konnten sich durchsetzen. Dafür wird wie an Silvester der Weihnachtstag Punkt null Uhr mit Böllerschüssen begrüßt. Und damit wäre wohl alles gesagt. Die Kreativität der Brasilianer kennt halt keine Grenzen, wenn es darum geht, auch besinnliche Momente der Ruhe und Einkehr wie die Heilige Nacht mit Lärm und Getöse zu übertönen. Still und starr ruht dann nur meine Katze vor Angst unter dem Bett. Weihnachten in halt in Brasilien auch an Festtagen immer ein bisschen Karneval.
Sehr geehrte Redaktion,
ich bin geschockt über diesen derartig undifferenzierten, unreflektierten und vor Eurozentrismus triefenden Beitrag auf Ihrer Plattform. Was werfen Sie, Herr Lang, denn dem „gemeinen“ Brasilianer vor? Dass er in einen korrupten Land lebt, in dem nicht jeder das Recht auf einen angemessene Bildung hat? Dass er nicht wie der Deutsche ab August die Weihnachts-Leckereien vom Aldi Nord/Süd konsumiert? Auch wenn es bei Ihnen noch nicht angekommen ist, wir schreiben das Jahr 2014, Brasilien ist seit geraumer Zeit unabhängig. Wenn Sie und ihre Katze Bock auf deutsche Weihnachten haben, setzten Sie sich in den nächsten Flieger! Frohe Weihnachten.