Mit seiner Zustimmung für ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff hat das Unterhaus des brasilianischen Kongresses das Ende einer politischen Ära und den Beginn einer neuen Periode im größten Land Südamerikas eingeläutet. Das verfassungskonforme Prozedere, das von Rousseff und ihrem Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva bis zuletzt als Putsch diffamiert wurde, zeugt von Reife der noch jungen Demokratie und dürfte es für künftige Regierungen jedweder politischer Couleur schwieriger machen, sich nach Lust und Laune über das Gesetz zu stellen. Es gilt als sicher, dass der Senat in den kommenden Tagen die Amtsenthebungsklage annehmen und mit einfacher Mehrheit genehmigen wird. Während der maximal 180-tägigen Suspendierung Rousseffs gilt es als unwahrscheinlich, dass die 68-Jährige noch einmal an ihren offiziellen Arbeitsplatz im „Palácio do Planalto“ zurückkehrt. Vizepräsident Michel Temer, ebenfalls Vorsitzender der Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens (PMDB), steht in den Startlöchern und will zumindest bis zu einer möglichen Neuwahl die Geschicke der größten Volkswirtschaft Lateinamerikas lenken.
Der 75 Jahre alte studierte Rechtswissenschaftler und anerkannte Experte für Verfassungsrecht ist der starke Mann der „Partido do Movimento Democrático Brasileiro“. Seine Partei ist die wichtigste in Brasilien, hat aber ein Paradox: sie hat bislang versucht, stets mit der jeweiligen Regierung zu kooperieren, egal von welcher Partei diese gestellt wird und hat noch nie einen Präsidenten hervorgebracht. Die Amtsenthebung von Rousseff ist nun eine reale Möglichkeit, in den Präsidentschaftspalast einzuziehen und das Land aus der Krise zu führen.
Laut verschiedenen führenden Analysten arbeitet der mögliche Interimspräsident, der vom aktuellen Staatsoberhaupt stets und demonstrativ in den Hintergrund gedrängt wurde, bereits seit längerer Zeit an einem „Plan Temer“, der seine Vorschläge zur Lösung des Polit-Chaos enthält. “ Temer befasst sich bereits seit längerer Zeit mit der Bildung einer dauerhaften Regierung. Es ist schwer vorstellbar, dass Dilma nach ihrer Suspendierung noch einmal zurückkehrt. Der Hauptunterschied der Politik Temers wird im wirtschaftlichen Bereich liegen und wird der engen liberalen Politik von Fernando Henrique Cardoso (von Januar 1995 bis Januar 2003 Präsident Brasiliens) gleichen“, glaubt Glauco Peres da Silva, Professor für Politikwissenschaft an der Universität von São Paulo.
Demnach hat die PMDB bereits ein Programm ausgearbeitet, das mit einer starke Anpassung und Strukturreformen die Tür für einen neuen und starken Wachstumszyklus aufstoßen soll. Dieser Plan wird von großen Teilen der Gesellschaft als die einzige Alternative aus dem Chaos gesehen. Der „Plan Temer“ sieht keine Kürzung der Sozialausgaben vor, beinhaltet allerdings die Möglichkeit, den laufenden Haushalt aufzuheben und neu zu verhandeln. Die Lockerung einiger Arbeitsnormen wird erwartet, ebenfalls eine Veränderungen des aktuellen Rentensystems.
Bislang beruht das brasilianische Rentensystem auf einer Pflichtversicherung. Grundlage bilden dabei ein Generationenvertrag, sowie die Finanzierung über Sozialversicherungsbeiträge und Steuern. Das System unterscheidet drei Gruppen: Arbeitnehmer des privaten Sektors, öffentliche Angestellte und Militärangehörige. Das Instituto Nacional da Seguridade Social (INSS) ist für das allgemeine Rentensystem der privaten Arbeitnehmer zuständig und zahlt aktuell an über 28 Millionen Personen Renten aus. Das Rentensystem des öffentlichen Sektors, das RPPS (Regime Próprio da Previdência Social), ist dezentral organisiert und unterscheidet zwischen zivilen und militärischen Beamten. Jede Gebietskörperschaft (Bund, Bundesstaaten und Gemeinden) führt eine eigene Rentenversicherung für seine Angestellten. Anders als in Europa, Japan und sogar den USA, wo immer weniger Erwerbstätige immer mehr Rentner durchbringen müssen, kommen auf 100 Brasilianer heute 69 im arbeitsfähigen Alter. Die im Vergleich zur Wirtschaftsleistung allerdings hohen Renten in Brasilien und die sonstigen Zahlungen für andere Erwerbsunfähige sind angesichts der aktuellen Situation kaum zu halten, das Land muss sich auf ein Zeitalter der Senioren einstellen.
Eine der großen Fragen ist, welches Maß an politischer und sozialer Unterstützung eine hypothetische Regierung Temers bekommen würde. Unter der „Fuchtel“ Rousseff konnte sich Temer nie entfalten, war komplett isoliert. Der brasilianische Kongress ist allerdings voller Überraschungen, auf die Unterstützung des mächtigen Industrieverbandes des Bundesstaates São Paulo (Federação das Indústrias do Estado de São Paulo) und der nationalen Vereinigung der Industrie kann Temer allerdings setzen.
„In Lauerstellung“ und „Temer befasst sich bereits seit längerer Zeit mit der Bildung einer dauerhaften Regierung“ liest sich sehr negativ. Wer auf das Impeachment der Präsidentin drängt ist die brasilianische Bevölkerung. Etwa sechs Millionenen sind am 13. März auf die Straβe gegangen. Temer wird es gewiss nicht einfach haben. Seine Regierung und ganz Brasilien wird in der Zeit nach dem Impeachment wahrscheinlich durch die von der Arbeiterpartei traditionell unterstützten „sozialen Bewegungen“ (wie Land- und Hausbesetzervereinigungen und Gewerkschaften) tyrannisiert werden. Sie haben schon mit Protesten vor seinen Wohnsitzen, in São Paulo und Brasilia begonnen. Temer informiert sich erst sei Kurzem bei den herausragendsten brasilianischen Wirtschaftswissenschaftlern. Es ist wichtig, dass er im Fall eines Amtsantritts sofort durchgreifende Maβnahmen ergreift, denn die Wirtschaft ist kaputt. Der Staat ist hoch verschuldet, Firmen machen reihenweise zu und die Arbeitslosigkeit steigt jeden Monat.