Kunst und Kultur werden sich das Erdbebenmotiv zügig zueigen machen. Die Künstler werden aus der Apokalypse schöpfen, und die Haitianer sind großartige Künstler. Dass Architektur und ähnliche Disziplinen zuerst in die Hochblüte einsteigen, leuchtet angesichts der Schadbilder ein. Paläste, Museen, Denkmäler, Parks, Sport- und Kinderplätze müssen neu gestaltet werden, besonders aber wird das tiefsitzende Trauma die Malerei maßgeblich beeinflussen. Die Haitianer auf der Karibikinsel Hispaniola schmachten doch förmlich nach Farben und sind Meister im Umgang damit. Maler und Farbvirtuosen werden auch jetzt wieder wunderschöne Farbstoffe auftragen auf Leinwände in der Prinzenstadt, Seide in Pétion-Ville, Holzfaserplatten in Jacmel, Karton in Croix-des-Bouquets, Leder in Cap-Haïtien, Baumrinde in Petit-Goâve, und wo und was sich sonst noch bemalen lässt. Dazu gehören auch die Bilder auf Gebäuden und öffentlichen Verkehrsmitteln, Sammeltaxis, Bussen, Lastwagen und Schiffen. Sie alle haben schon früher, nach den Hilfsaktionen zum Beispiel mit Helikoptern und Flugzeugträgern entsprechende Malereien gezeugt. Sie werden das schreckliche Trümmergrau aufleuchten lassen und zu strahlendem Leben verzaubern.
Auch die Musik wird mit Sicherheit auferstehen aus dem Erdbebenschutt, jetzt grundlegend beeinflusst werden. Es werden Rap- und Reggaesongs, Socas und Meringues und wunderbare Lieder und Songs aus den Trümmern herausklingen, die Trauer, Hunger und Trennung der Familien verarbeiten und das Vergangene vergessen machen, möglichst vergessen, für einen Augenblick. Und die Haitianer lieben doch Wohlklänge so, die KÖNNEN nicht anders! Ich selber habe im Nachbardorf Mels dieser Tage den Vortrag eines DEZA-Mitarbeiters ( Schweizerische Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit ) besucht, der von rührenden musikalischen Einlagen begleitet war. Seine Ausführungen waren eingebettet im Konzert eines Percussionisten, mit Schlagzeugen gespielt. Dabei imitierte der Tonkünstler in aufrüttelnder Weise die akustischen Eindrücke des entsetzlichen Erdbebens. DAS waren denn „Wohlklänge“, Schauder erregend, fürchterlich, mark- und beindurchbohrend, unvergesslich, selbst für hartgesottene Nicht-Haitianer.
Eine für das Land typische Kunstform stammt noch aus der Zeit fehlender Massenmedien, eine Zeit, die hier noch nicht lange vorbei ist und jetzt, mangels Strom und Geräten, vielleicht nochmals aufblüht. Es ist die Zeit der „Blageurs“, der Märchen- und Witzeerzähler. Strassenzirkus und Pantomime werden neu aufleben. Andere Formen der Volks-, Jugend- und Popkultur werden mithelfen, die haitianische Kunst- und Kulturwelt zu beleben. Und mit einigem Abstand werden auch die klassischen Künste folgen. Dichtung, Theater und Oper werden eine Renaissance erleben, und alle werden aus der Jahrhundertkatastrophe und den Trümmern bereichert hervorgehen.
Die Haitianer drüben vor Ort, die mögen auch Rhythmen und Bewegung, sie sind fast elektrisch. Die Körper der sehnigen jungen Männer und der anmutigen schlanken Tänzerinnen werden gleich wieder bammeln und beben, rollen und ruckeln, schaukeln und schieben, wiegen und wogen, zappeln und zucken, vergessen lassen, was eben noch war. Man atmet und fühlt ja weiter, und das muss man zeigen und leben. Menschen sind wie das Klima, in dem sie leben: Erdbeben und Tropenregen sind einmal vorbei, und man muss vergessen können, sich beeilen, sich zu regen, bevor schon wieder das nächste Naturereignis, das nächste Unheil beginnt, das unbekannte. Kunst hilft dabei, das Grau zu überwinden, Klang und Farbe hinein zu bringen. Kunst trifft mitten ins Herz. Kunst ist der Reichtum dieses armen, gebeutelten Volkes. Dank seiner Einfalls- und Schaffenskraft leuchten wieder Farben aus den grauenhaften Trümmern, und Schutthalden beginnen wieder zu klingen und blühen.
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