Persien – heute Iran – war schon seit jeher zwischen Krieg und Heil hin und hergerissen und vermischte die Werte wie im Schüttelbecher. Persien war auch einfallsreich im Erfinden von Fallen und Hinterhalten, bis heute. Persien hat auch immer wieder neue Tötungsmittel erfunden, schon lange vor Christus den „Ruch“, den schwerbewaffneten persischen Kampfwagen.
Und vielleicht tausend Jahre später das Schachspiel. Es verbreitete sich mit dem Islam nach Westen und eroberte schließlich die Welt. Der „Ruch“ setzte seine Schachrolle fort. Aus ihm wurde der „Roch“, daraus der „Rook“ und schließlich der deutsche „Turm“. Der Roch gab auch dem Hauptzug des Schachspiels den Namen, der „Rochade“.
Dies ist der Spielzug, bei dem König und Turm einer Farbe bewegt werden, der einzige Zug, bei dem sich zwei Figuren zugleich bewegen. Indem ein Spieler „rochiert“, bringt er seinen König in eine bessere Position und entwickelt den beteiligten Turm, eben den Kampfwagen Ruch. Der Ausdruck „Rochade“ wird auch in übertragenem Sinne verwendet, zum Beispiel für einen Personen- und Funktionswechsel in Wirtschaft oder Politik, Positionswechsel in einem Fußballspiel und andere mehr.
Als so ziemlich missratenem ehemaligem Schachspieler sei mir der Lapsus erlaubt, eigene Schachregeln zu kreieren, nämlich den Turm mit der Dame zu verwechseln. Dies erlaubt mir nämlich, den Ausdruck „Rochade“ nochmals in einem weiteren Sinne zu verwenden, im Sinn einer „Familienrochade“. Meine Frau Rosita ist Haitianerin, sie war schon mit einem Schweizer Kunstmaler verheiratet als ich ihr erstmals begegnete, war also bereits eine echte schwarze Schweizerin, die Familie größtenteils in der „Diaspora“, nämlich in den USA, Kanada und eben der Schweiz. Als 1989 einer ihrer Brüder in den USA ermordet wurde – das Temperament der Haitianer mit seinen Eskapaden ist ja nicht neu – musste ich natürlich mit zur Beerdigung, wegen Englisch und so. In den USA machte ich also meine ersten Erfahrungen mit haitianischer Kultur und Exotismus. Exotismus nicht im landläufigen Sinn eines „eurozentristischen Blicks auf die Fremde“, sondern eher verstanden als „afrozentristischen Blick auf Haiti“, ein Land das ich als „Erbe Afrikas“ sah, übrigens noch heute – immer mehr. Und Afrika war ja meine Leidenschaft, schon das ganze Leben lang.
Natürlich lernte ich auch bald Haiti selber kennen, und ich vermutete meine Zukunft dort, das tropische Klima und die dortigen Menschen gefielen mir besser. Bis zur Scheidung Rosis von ihrem Bildermaler war es nicht mehr weit, bis zur nachfolgenden Vermählung mit mir auch nicht, das war vor über 20 Jahren, mein drittletztes großes Erlebnis in der Schweiz. Wir mieteten ein Zürichsee-Dampfschiff, unsere Freunde hatten kaum Platz, und schlemmerten und feierten durch die Nacht, während das Schiff langsam um den Zürichsee dampfte. Zwei Orchester, wovon eine Steelband aus der Karibik, sorgten für ein unvergessliches musikalisches Erlebnis. Leider waren die Kinder nicht dabei, sie hatten noch keine Papiere, für die papiergierige Schweiz.
Die drei Kinder adoptierte ich, sie sind auch schwarz, ich war nun der einzige Weiße in der Familie. Ich wurde ja bald pensioniert, und dass es mir in Haiti besser gefallen würde, war auch klar. So verkaufte ich meine Schweizer Häuser und baute drüben jahrelang an einem neuen Paradies, das jetzt, nach zwanzig Jahren, leider zusammengestürzt ist und nichts mehr übrig ließ.
Mein zweitletztes Schweizer Erlebnis war das Fest, das ich zu meiner Pensionierung gab. Diesmal war es ein schwarzes Sänger-Ehepaar aus Jamaica, das unvergessliche Musik spielte und eine Stimmung herbeizauberte, die niemand mehr vergessen konnte. Das Fest war fast gleich groß wie das bei der Heirat; wir sagten uns, anderen Freude zu bereiten sei ja das Größte in einem Leben, und wenn wir diese Kosten gespart hätten, hätte das vielleicht für jedes Fest ein kleineres Haus gegeben. Aber auch diese Häuser wären wohl zusammengestürzt, und der ganze Einsatz wäre auch noch verloren. Die beiden großen Feste aber bleiben im Herzen von hunderten von Freunden, die heute noch davon sprechen, heute noch Freude daran haben.
Während der zwanzig Jahre aber herrschte Familien-Rochade. Das heißt, während ich drüben war, lebte und schrieb, kümmerte sich Rosi um die Kinder, die noch etliche Schulen benötigten. Sie kamen mit der Mutter gelegentlich ferienhalber vorbei. Sicher bevorzugten sie auch die Dinge, die es in Haiti nicht gibt, wie etwa die Tasten der Technik, die man hier nur drücken kann, dann ist alles da. Nach meiner Meinung jedoch strömt außer Strom auch Stress aus der Leitung, und die wichtigste Störung für mich ist europäische Kälte und Klima. Der Rückhalt in der eigenen Familie nach der Jahrhundert-Katastrophe und dem Einsturz von allem, was wir ein Leben lang aufgebaut hatten, innert 35 Sekunden, aber war Gold wert.
Das alles ist nicht so, wie man es sich normalerweise vorstellt, aber niemand von uns will und wollte je „normal“ und „bewirtschaftet“ sein, und wir suchen uns Wege und Werte selbst. Das ist gar nicht schlecht, Mangel an Distanz führt zu Spannungen, Reibereien, Verstimmung, Streit und Stress. Nicht nur in Hühnerbatterien.
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