Weltweit breitet sich das Coronavirus weiter aus und hat bereits 76.000 Menschen das Leben gekostet. 1.360.000 Personen sind infiziert, ein Ende der Pandemie ist nicht in Sicht. Laut Gesundheitsexperten besteht die Gefahr, dass Ureinwohner im Amazonasgebiet und anderswo in Brasilien vom Coronavirus „ausgelöscht“ werden. Atemwegserkrankungen – wie sie sich aus dem Influenzavirus entwickeln – sind bereits die Haupttodesursache für indigene Gemeinschaften. Bis Dienstagmorgen (6.) Ortszeit hatte Brasilien 12.240 bestätigte Fälle von Covid-19 und 566 Todesfällen gemeldet. Die Infektionen konzentrierten sich zunächst auf den Industriestaat São Paulo. Mittlerweile haben sie sich jedoch im ganzen Land verbreitet, auch in indigenen Gebieten im Amazonasbecken, die so groß sind wie Frankreich und Spanien zusammen.
Indigene Gruppen machen 0,5 Prozent der brasilianischen Bevölkerung aus, die erste Infektion unter indigenen Völkern wurde im Bundesstaat Amazonas registriert. „Es besteht ein unglaubliches Risiko, dass sich das Virus in den einheimischen Gemeinden ausbreitet und sie auslöscht“, warnt Dr. Sofia Mendonça, Forscherin an der Bundesuniversität von São Paulo (Unifesp). Mendonça ist Koordinatorin eines von einer Universität geleiteten Gesundheitsprojekts unter indigenen Völkern im Einzugsgebiet des Rio Xingu im Amazonas-Regenwald. Sie befürchtet, dass das Coronavirus ähnliche Auswirkungen haben könnte wie frühere schwere Ausbrüche hoch ansteckender Atemwegserkrankungen wie Masern. In den 1960er Jahren starben bei einem Masernausbruch unter Mitgliedern der Yanomami-Gemeinde, die nahe der Grenze zu Venezuela leben, neun Prozent der Infizierten.
Als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie haben sich bereits einige Gemeinden in kleinere Gruppen aufgeteilt und Zuflucht im Wald gesucht. Auf diese Weise haben sie ihr Aussterben während vergangener Epidemien vermieden. „Sie werden Material sammeln, das für die Jagd und das Angeln benötigt wird und Lager errichten. Dort werden die Indios warten, bis sich der Staub gelegt hat“, so Mendonça. Da sich das Virus unaufhaltsam in ganz Brasilien verbreitet fragen sich viele, ob die Regierung versuchen wird, indigene Gruppen zu schützen. Präsident Jair Messias Bolsonaro wird von vielen indigenen Führern als Feind ihrer Sache angesehen. Nach seinen Worten sind indigene Gebiete zu groß und ihre natürlichen Ressourcen sollten mit dem Rest der Bevölkerung geteilt werden. Während viele Gouverneure und Bürgermeister Beschränkungen zur Reduzierung von Infektionen angeordnet haben, hat der Präsident das Coronavirus mit einer „kleinen Grippe“ verglichen und die Wiedereröffnung von Schulen und Einkaufszentren befürwortet.
Angesichts der Untätigkeit der Regierung haben mehrere indigene Organisationen ihre Gemeinden gebeten, Reisen in Städte auszusetzen und Besucher daran zu hindern, ihr Territorium zu betreten. „Wer auch immer ein wahrer Freund ist, versteht unsere Zerbrechlichkeit. Lassen Sie uns das Coronavirus von den Dörfern fernhalten“, steht auf einem Banner, das von Angehörigen der Karajá-Ureinwohner auf einer Straße im Bundesstaat Mato Grosso angebracht wurde. Selbst mit solchen Vorsichtsmaßnahmen sagen Experten, dass Covid-19 wahrscheinlich irgendwann einige Dörfer erreichen wird und dass es notwendig sein wird, die Kranken zu isolieren, bevor sie Menschen infizieren, die mit ihnen in Kontakt stehen.
Experten warnen auch vor der schwerwiegenden Bedrohung, die das Coronavirus für indigene Gruppen darstellt, die bereits in freiwilliger Isolation leben. Laut der Bundesbehörde für indigene Angelegenheiten „Funai“ gibt es im brasilianischen Amazonasgebiet 107 bekannte indigene Gruppen, die keinen Kontakt zur Außenwelt haben. In ihrem Gebiet sind jedoch illegale Holzfäller, Jäger und evangelikale Missionare tätig. Indigene Organisationen und NGOs sagen, dass es in den letzten Jahren bereits einen starken Anstieg von eingeschleppten Infektionen gegeben hat. Die meisten indigenen Gruppen sind sich einig, dass sie Reisen in Städte vermeiden sollten. Allerdings befinden sie sich in einem Teufelskreis: Jeden Monat pilgern Tausende von Mitgliedern lokaler Gruppen mit Booten in die Stadt, um Renten und Zugang zu staatlichen Geldtransferprogrammen zu erhalten. Die Ausweitung solcher Programme in den letzten Jahrzehnten bedeutet, dass einige Gemeinden aufgehört haben nach eigenen Nahrungsmitteln zu suchen und diese anzubauen und sich nun darauf verlassen, dass sie mit diesen Fördergeldern überleben.
Laut Marivelton Baré, Präsident der Föderation indigener Organisationen von Rio Negro (Foirn), sind viele lokale Gemeinschaften „in Panik“ geraten. „Wir müssen das Essen in die Dörfer bringen, damit sie sich diesem kritischen Moment nicht aussetzen“. Die Situation ist für Bewohner westlicher Industriestaaten nur schwer vorstellbar: Im Krankenhaus von São Gabriel da Cachoeira gibt es keine Beatmungsgeräte. Daher müsste ein schwer erkrankter Patient in die Hauptstadt von Amazonas, Manaus, gebracht werden – eine 1.000 Kilometer lange Bootsfahrt.
Update, 8. April
Das Gesundheitsministerium hat am Mittwochmorgen (8.) Ortszeit 14.152 Infektionen in allen Bundesstaaten und 700 Tote offiziell bestätigt. Mindestens sieben Fälle von Coronavirus bei Indigenen in drei verschiedenen Bundesstaaten sind registriert (Amazonas, Pará und Roraima).
Leider kein Kommentar vorhanden!