Pressefreiheit in Brasilien gefährdet wie nie

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Laut Bolsonaro gibt es keinen Grund, wegen des Coronavirus in Panik zu geraten (Foto: AgenciaBrasil)
Datum: 12. Juni 2020
Uhrzeit: 16:28 Uhr
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Autor: Redaktion
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Reporter ohne Grenzen (RSF) sieht die Pressefreiheit in Brasilien so gefährdet wie noch nie seit dem Ende der Militärdiktatur im Jahr 1985. In der Corona-Krise haben die Aggressionen gegenüber Medienschaffenden noch einmal zugenommen. Präsident Jair Bolsonaro heizt die Stimmung teilweise täglich über Verbalattacken auf Medienvertreterinnen und Medienvertreter systematisch auf. Einige Medien schicken deshalb aus Sicherheitsgründen keine Berichterstattenden mehr zu Terminen mit dem Präsidenten. Er und sein Umfeld verbreiten zugleich Desinformationen über die sozialen Medien, vorübergehend wurde die offizielle Herausgabe von Zahlen zur Corona-Pandemie eingestellt.

„Bolsonaros Ziel ist klar: Er will die Medien zum Schweigen bringen, die öffentliche Debatte kontrollieren und von Problemen ablenken, die sonst öffentlich diskutiert würden“, sagte Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen. „Medienschaffende müssen ohne Angst und aus eigener Anschauung über das politische Geschehen berichten können. Nur unabhängiger Journalismus kann der Bevölkerung helfen, die Desinformationskampagnen von Bolsonaro und seinem Umfeld als solche zu erkennen. In der Corona-Epidemie, die Brasilien immer noch fest im Griff hat, kann das lebenswichtig sein.“

Am Abend des vergangenen Freitags (5. Juni) erklärte die Regierung, keine Gesamtzahlen von Corona-Infektionen und -Todesfällen mehr herauszugeben, sondern nur noch die täglichen Zuwächse. Die Entscheidung sowie die Tatsache, dass dies erst nach Ende der Abendnachrichten kommuniziert wurde, wurde von vielen Seiten kritisiert. Das Oberste Bundesgericht wies daraufhin die Regierung unter Verweis auf deren Informationspflicht an, die Entscheidung rückgängig zu machen, was diese am Dienstag (9. Juni) tat. Ein Richter des Obersten Gerichts erklärte, die Manipulation von Daten sei eine Taktik autoritärer Regime.

Als Reaktion auf diese Informationsblockade der Regierung hatten die Medien Folha de S. Paulo, UOL, Estadão, Extra, O Globo und G1 am Montag (8. Juni) in einer beispiellosen Aktion erklärt, eine Partnerschaft zur Verbreitung von Daten über Infektionen und Todesfälle durch das Coronavirus einzugehen.

Aggressionen gegen Medienschaffende nehmen in Corona-Krise weiter zu

In der Corona-Krise haben sich die ohnehin allgegenwärtigen Aggressionen von Bolsonaro und seinen Anhängerinnen und Anhängern gegenüber den Medien noch weiter verschärft. Brasilien ist seit einigen Wochen ein Corona-Epizentrum, kein anderes Land Lateinamerikas verzeichnet so viele Corona-Infektionen und damit verbundene Todesfälle. Präsident Bolsonaro leugnete von Beginn an, dass die Pandemie eine reale Bedrohung ist. Er warf den Medien systematische Panikmache aufgrund einer „kleinen Grippe“ vor und unterstellte ihnen, die Bevölkerung bewusst verunsichern zu wollen. Medienvertreterinnen und Medienvertretern rief er am 26. März zu: „Habt ihr keine Angst vor dem Coronavirus? Geht nach Hause!“

Twitter löschte am 29. März zwei Videos von Bolsonaro, die ihn beim Bad in der Menge zeigten, weil die Inhalte die Gefahr vergrößerten, dass Personen das Corona-Virus weiter verbreiten. Facebook und Instagram zogen am Folgetag nach. Der Präsident kommuniziert seine politischen Botschaften bevorzugt über soziale Netzwerke, oft über Videos, und umgeht damit bewusst die traditionellen Medien.

Eine andere Kommunikationsform Bolsonaros sind fast täglich stattfindende informelle Pressekonferenzen vor seiner Residenz, dem Alvorada-Palast. Seine Anhängerinnen und Anhänger versammeln sich dort hinter Absperrungen und beschimpfen das anwesende Pressecorps. Am 25. Mai war die Stimmung so aggressiv, dass Militärpolizei die Menge auflösen musste. Der Journalistengewerkschaft SJPDF wurden Dutzende von Attacken an diesem Tag gemeldet.

Als Folge kündigten die Grupo Globo (der größte Medienkonzern in Brasilien und Lateinamerika unter anderem mit dem Fernsehsehsender TV Globo, den Zeitungen O Globo und Valor Econômico und der Nachrichtenwebseite G1), die Bandeirantes-Gruppe, die Zeitung Folha de S. Paulo und die Nachrichtenwebseite Metropoles am 26. Mai an, die Termine nicht mehr zu besetzen, weil die Sicherheit der Journalistinnen und Journalisten nicht mehr zu gewährleisten sei. Auch O Estado de S. Paulo schickt keine Mitarbeitenden mehr dorthin, Correio Braziliense bereits seit Anfang Mai nicht mehr. Bolsonaro kritisierte daraufhin, die Medien wollten sich als Opfer stilisieren.

Eine solche Selbstzensur der Medien aus Sicherheitsgründen ist in der Geschichte des demokratischen Brasiliens einzigartig und Anlass zu größter Sorge, wie RSF Ende Mai in einem gemeinsamen Appell mit weiteren Pressefreiheitsorganisationen hervorhob.

Trotz der Corona-Pandemie richten Unterstützerinnen und Unterstützer Bolsonaros weiterhin regelmäßig große Demonstrationen aus, auf denen es wiederholt zu Gewalt gegen Berichterstattende kam. Am 17. Mai schlug eine Anhängerin Bolsonaros auf einer solchen Demonstration der Fernsehjournalistin Clarissa Oliveira mit einer Fahnenstange auf den Kopf. Während die Journalistin dies als Akt der Einschüchterung wertete, sprach die Demonstrantin von einem Versehen. Auf einer Pro-Bolsonaro-Demonstration in Brasília am 3. Mai wurden Journalisten und ihre Teams mit Tritten und Schlägen attackiert.

Der jüngste Angriff auf Medien ereignete sich am Mittwoch (10. Juni), als ein mit einem Messer bewaffneter Mann in die Redaktion des Fernsehsenders Globo in Rio de Janeiro eindrang und die Journalistin Marina Araújo als Geisel nahm. Der Mann verlangte die Moderatorin Renata Vasconcellos zu sprechen. Die Militärpolizei konnte ihn schließlich überwältigen und festnehmen, niemand wurde verletzt. Der Sender erklärte anschließend, der Vorfall habe keine politische Dimension, der Täter habe psychische Probleme.

Jeden dritten Tag eine Verbalattacke von Bolsonaro

Die Zahl der Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten in Brasilien ist laut Journalistenvereinigung FENAJ zwischen 2018 und 2019 um 54 Prozent angestiegen, von 135 auf 208. Der Präsident selbst hat daran einen überwältigenden Anteil: 121 verbale Attacken gingen von Bolsonaro persönlich aus. Im ersten Quartal 2020 und damit in der beginnenden Corona-Krise setzte sich dieser Trend laut einer Erhebung von RSF fort: Zwischen Januar und März gingen von Bolsonaro 32 verbale Attacken gegen Medien und einzelne Journalistinnen und Journalisten aus, also jeden dritten Tag eine.

Besonders abgesehen hat es Bolsonaro auf die liberale Tageszeitung Folha de S. Paulo. Er bezeichnete das Medium als „größte Fake News Brasiliens“ und hetzt gegen einzelne Mitarbeitende, besonders die Journalistin Patrícia Campos Mello, seit diese im Wahlkampf 2018 aufgedeckt hatte, dass Geschäftsleute illegal eine Desinformationskampagne via WhatsApp für ihn finanziert haben.

Als ein Parlamentsausschuss diese Vorwürfe im Februar 2020 aufarbeitete, verbreiteten Bolsonaro, sein Sohn Eduardo und weitere Politiker die Behauptung eines mutmaßlich Beteiligten weiter, Campos Mello habe die Informationen von ihm für sexuelle Gefälligkeiten erhalten. Dies trat eine Welle von sexualisierten, frauenverachtenden Beleidigungen und Drohungen gegen Campos Mello los.

Auch das Globo-Netzwerk attackiert Bolsonaro besonders häufig. Die Grupo Globo ist der mit Abstand größte Medienkonzern Brasiliens – allein neun der 50 wichtigsten Medien Brasiliens gehören der Unternehmensgruppe. Die Medien der Gruppe stehen dem konservativen Lager nahe, zu Bolsonaro gehen sie aber immer wieder dezidiert auf Distanz.

Bolsonaro und sein Umfeld haben wiederholt Werbetreibende aufgefordert, Folha und Globo zu boykottieren und Medien zu bevorzugen, die „auf Regierungslinie“ sind.

Unterstützt wird Bolsonaro von einem „Hasskabinett“

Unterstützt wird Bolsonaro von seiner Familie, einigen Ministern und einer großen Zahl von Anhängerinnen und Anhängern in sozialen Netzwerken. Laut brasilianischem Rundfunkverband ABERT gab es 2019 vier Millionen Online-Angriffe auf Medien und Medienschaffende (das sind zehn Prozent aller Social-Media-Posts mit den Worten „Presse“, „Journalist“, „Journalismus“ oder „Medien“). Besonders oft und besonders harsch werden Frauen attackiert.

Im März 2020 führte RSF Bolonaro und sein „Hasskabinett“ als einen der weltweiten Feinde des Internets auf. Bei dem „Hasskabinett“ handelt es sich um eine Gruppe enger Berater des Präsidenten, die von dessen Sohn Carlos koordiniert wird und die in den sozialen Medien in großem Stil Hass gegen Journalistinnen und Journalisten schürt, Neben Patricia Campos Mello sind Constança Rezende (UOL Notícias) und Glenn Greenwald (The Intercept Brasil) bevorzugte Ziele. Einige der aggressivsten Online-Attacken kommen von Bolsonaros Söhnen.

Mindestens 14 Morde in fünf Jahren

Brasilien ist für Journalistinnen und Journalisten eins der gefährlichsten Länder Lateinamerikas. In den vergangenen fünf Jahren wurden dort mindestens 14 Medienschaffende in Zusammenhang mit ihrer journalistischen Tätigkeit getötet. Meist hatten sie über Korruption, Missstände in den Behörden oder organisiertes Verbrechen berichtet – oft in kleineren oder mittleren Städten, wo sie besonders exponiert sind. Ein Großteil der Taten wird nicht aufgeklärt. In vielen weiteren Fällen ist der Zusammenhang der Tat mit der Arbeit naheliegend, aber bislang nicht nachzuweisen.

Unklar sind etwa die Hintergründe des Mordes an dem Blogger Leonardo Pinheiro, der am 13. Mai in Araruama im Bundesstaat Rio de Janeiro während eines Live-Interviews niedergeschossen wurde. Er hatte auf seinem eigenen Facebook-Account A Voz Araruamense und der Facebook-Seite Fala Araruama über soziale Themen berichtet und zuletzt kritisch über die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen auf die ärmere Bevölkerung berichtet. Auch war er lokalpolitisch aktiv. Der Bundesstaat Rio de Janeiro ist besonders gefährlich für Journalistinnen und Journalisten. Im Mai 2019 wurden dort zwei Journalisten ermordet. Beide Fälle sind bis heute nicht aufgeklärt.

Der brasilianische Lokaljournalist Léo Veras wurde am 12. Februar in seinem Haus im paraguayischen Pedro Juan Caballero, direkt an der Grenze zu Brasilien, erschossen. Er war auf die Themen Korruption, organisierte Kriminalität und Drogenschmuggel spezialisiert und schon oft bedroht worden.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit liegt Brasilien auf Platz 107 von 180 Staaten.

Pressemitteilung

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