Die gestohlenen Kinder der Pinochet-Diktatur

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Die meisten Kinder landeten in Schweden, Italien, den USA, den Niederlanden, Frankreich und Deutschland (Foto: adocaobrasil)
Datum: 20. Juni 2021
Uhrzeit: 20:51 Uhr
Leserecho: 1 Kommentar
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Nur zehn Wochen nach ihrer Geburt kam María Diemar 1975 aus Chile in Schweden an. Zwei Jahre später kam ein fünf Wochen alter Junge, der ihr Bruder werden sollte, hinzu. Ihre Eltern haben ihnen immer gesagt, dass sie adoptiert wurden. „Es war sehr offensichtlich. Meine Mutter und mein Vater sind blond. Er hat blaue Augen. Wir waren so unterschiedlich und mir wurde immer gesagt, dass ich eine Mutter in Chile habe“, erklärt die heute 46-jährige María. Sie und ihr Bruder, beide mit brauner Hautfarbe, fielen im undiversen Schweden der 1970er Jahre in einer Schule voller weißer und blonder Kinder auf und waren vielen Hänseleien ausgesetzt. Trotzdem versicherten sie, dass sie eine glückliche Kindheit hatten. Zu diesem Zeitpunkt wussten sie noch nichts von den Unregelmäßigkeiten bei ihrer Adoption. Sie wussten auch nicht, dass ihre Mutter sie nie verlassen wollte und dass sie und ihr Bruder in Wirklichkeit kurz nach der Geburt gestohlen wurden.

Marías Adoptivmutter arbeitete als Sozialarbeiterin in einer Grundschule. Ihr Mann war Ingenieur und das sie keine Kinder bekommen konnten, beschlossen sie, zwei vaterlosen Kindern aus armen Ländern „ein besseres Leben“ zu ermöglichen. Dank der Arbeit des Ingenieurs war das Ehepaar bereits in Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay und hatten Bekannte in Chile. Sie wollten Kinder aus der Region adoptieren. Zu dieser Zeit waren Chile und Kolumbien die häufigsten Länder für die Adoption von Kindern. Wie viele andere Schweden der damaligen Zeit kontaktierten sie eine von der lokalen Regierung gesponserte Agentur und sammelten alle notwendigen Unterlagen, die dann 1974 nach Chile geschickt wurden – Maria war zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal gezeugt. 1973, zwei Jahre vor Marias Geburt, hatte ein Staatsstreich Salvador Allendes demokratische Regierung gestürzt. General Augusto Pinochet errichtete bis 1990 ein Militärregime und beging schwere Menschenrechtsverletzungen.

„Die Gewalt begann mit der Unterdrückung und dem Verschwinden der Linken und der Gegner, dann nahm sie verschiedene Formen an“, erklärt Danny Monsálvez, Geschichtsprofessor und Forscher an der Universität Concepción. Der Fachhistoriker behauptet, der Diebstahl von Babys sei „Teil einer Politik“ gewesen. „Das waren keine Einzelfälle. In den Adoptionsprozess waren nach seinen Worten staatliche Institutionen wie das Standesamt eingebunden. Sie nahmen Kinder aus „verletzlichen“ Familien und in diesem Zusammenhang wurden tausende Kinder für Familien in ganz Europa zur Adoption freigegeben: Maria und Daniel waren „zwei der vielen Opfer dieser Praxis. Anfang 2018 begann der ehemalige Minister des Gerichtshofs von Santiago, Mario Carroza, mit der Untersuchung von etwa fünfhundert Fällen irregulärer Adoptionen, die zwischen 1970 und 1990 stattfanden. Bis Ende des Jahres hatte das chilenische Berufungsgericht bereits geschätzt, dass rund 7.500 Adoptionen, die zu diesem Zeitpunkt stattfanden, illegal gewesen sein könnten. Im September 2018 setzte das Unterhaus des chilenischen Kongresses auf Druck verschiedener Gruppen eine Kommission ein, um den vielen Vorwürfen nachzugehen. Im Juli 2019 veröffentlichte die Sonderkommission einen 144-seitigen Bericht, der rund 20.000 Fälle von chilenischen Kindern behandelt, die während der Regierung Augusto Pinochet von ausländischen Paaren adoptiert wurden. Die Praxis bestand darin, Mütter zu täuschen. Ihnen wurde oft gesagt, dass ihre Babys gestorben seien. In einigen Fällen gab es laut demselben Bericht Hilfe von Richtern, Einwanderungsbehörden, Notaren, religiösen Persönlichkeiten und Regierungsinstitutionen. Die meisten Kinder landeten in Schweden, Italien, den USA, den Niederlanden, Frankreich und Deutschland.

María brauchte mehrere Jahre, um den Aufenthaltsort ihrer leiblichen Mutter und ihrer Brüder herauszufinden. Sie reiste sie in ihre Heimat Lautaro, um das Krankenhaus, in dem sie geboren wurde und das Waisenhaus zu besuchen, in dem sie vermutete, dass sie als Baby dorthin gebracht wurde. Es gab allerdings keine Aufzeichnungen darüber. In der Hauptstadt Santiago erhielt sie jedoch einen neuen und entscheidenden Tipp: Die schwedische Adoptionsagentur, mit der sie in ständigem Austausch stand, teilte ihr mit, dass sie nach der Geburt von einer Betreuerin aufgenommen worden sei. Eine Dame vom Standesamt versicherte ihr, dass ihre verheirate Mutter noch in Südchile lebe und andere Kinder habe. Jahre später fand sie ihre Mutter, die weder lesen noch schreiben konnte. „Wie konnte sie also die Adoptionsunterlagen verstehen und unterschreiben“ fragte sich María. Der damalige Chef ihrer Mutter und einige Sozialarbeiter waren demnach an der Entscheidung beteiligt und sie hatte kein Mitspracherecht. Bis 1978 brauchten Mädchen unter 21 Jahren in Chile die Unterschrift ihrer Eltern, um ein Baby zur Adoption freizugeben. Das war in Marías Fall nicht passiert.

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  1. 1
    C.H. Sievers

    Glückwunsch zu Ihrem, die bedrückenden Tatsachen zutreffend geschriebenen Artikel!
    Einige dieser Tatsachen werden allerdings einigen Ihrer Leser und Kommentatoren gar nicht in den ideologisch gefärbten Unterbau passen.

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