An diesem Freitag (29.) werden mehr als eine Million Brasilianerinnen und Brasilianer wie jeden Monat ihre „Bolsa Família“ beziehen. Damit ist es jetzt vorbei. Nach achtzehn Jahren zahlt das Geldtransferprogramm, das einst als weltweites Vorbild galt, seine letzten Empfänger aus, bevor es durch die vorläufige Maßnahme 1.061, mit der „Auxílio Brasil“ geschaffen wurde, von der Bildfläche verschwindet. Offiziell läuft „Bolsa Família“ erst nächste Woche aus, wenn das Gesetz, mit dem es eingeführt wurde, außer Kraft gesetzt wird. Für die Begünstigten – 14,84 Millionen im Oktober – ist das was kommt, die Erwartung und Unsicherheit über das Programm, das es ersetzen soll. Die Regierung verspricht, bereits im November mit den Zahlungen von „Auxílio Brasil“ zu beginnen. Doch noch am Donnerstag (28.) kündigte sie Änderungen an: Nachdem sie den Begünstigten einen Mindestwert von vierhundert Reais versprochen hatte, wird sie diesen Wert im Dezember nicht mehr erreichen. Für den nächsten Monat gilt nur noch die Anpassung von zwanzig Prozent.
Das Sozialhilfeprogramm „Bolsa Familia“ bekämpft die schlimmste Armut in Brasilien und bewahrt dadurch die ärmsten Bewohner des südamerikanischen Landes vor Hunger. Die Ursprünge des als Glanzleistung der Sozialreform geltenden Programmes gehen auf Ex-Präsident Fernando Henrique Cardoso und teils sogar bis in die Spätphase der Militärherrschaft zurück. Damals betrug der gezahlte Betrag fünfzig Reais pro Familie in extremer Armut, mit einem Aufschlag von bis zu fünfundvierzig Reais je nach Zusammensetzung der Familie. „Mit sehr geringen Ausgaben, die nicht einmal ein halbes Prozent des „BIP“ erreichten, gelang es den Teufelskreis der Armut zu durchbrechen“, erinnert sich Sandra Brandão, Wirtschaftswissenschaftlerin bei der Seade-Stiftung. Niemand konnte sich vorstellen, dass ein Programm mit so geringen Kosten, das von einer so großen Zahl von Menschen aus dem ganzen Land genutzt wird, so erfolgreich sein könnte. In einer 2019 veröffentlichten Studie wird darauf hingewiesen, dass die Transferleistungen des Programms im Jahr 2017 rund 3,4 Millionen Menschen aus der extremen Armut und weitere 3,2 Millionen aus der Armut befreit haben. Von 2001 bis 2015 hat das Programm die Ungleichheit im Land um zehn Prozent verringert. Dieselbe Studie hat auch gezeigt, dass jeder in das Programm investierte Real rund 1,8 Reais zum „BIP“ beiträgt und sich somit positiv auf das Wachstum des Landes auswirkt.
Sandra Brandão weist auch auf die positiven Auswirkungen auf Gesundheit und Bildung hin: Die Kindersterblichkeit ist um achtundfünfzig Prozent gesunken, der Schulbesuch hat zugenommen und dank der verbesserten Ernährung sind die Kinder größer geworden. In einem Bericht des Rates für die Überwachung und Evaluierung öffentlicher Maßnahmen des Wirtschaftsministeriums aus dem Jahr 2020 heißt es, dass „das Programm die Armut in Brasilien deutlich reduziert hat“. In den letzten Jahren ist der Nutzen jedoch stark zurückgegangen. Die letzte Anpassung erfolgte 2017 und die Inflation hat seither einen Großteil der Kaufkraft aufgezehrt. Laut dem FGV-Ökonomen Marcelo Neri müsste „Bolsa Família“ heute um 32,2 Prozent angepasst werden, um die Verluste seit 2014 auszugleichen – mehr als die für „Auxílio Brasil“ angekündigten zwanzig Prozent. Das Ende von „Bolsa Família“ lässt Millionen von Familien im Ungewissen – auch darüber, ob sie im November Hilfe erhalten werden. Denn nach Ansicht von Haushaltsexperten des Kongresses gibt es für die Regierung keine Rechtsgrundlage mehr, das Geld über „Bolsa Família“ zu überweisen.
Damit die Regierung die Brasilienhilfe auszahlen kann, muss der Kongress einen Gesetzentwurf genehmigen, mit dem 9,3 Milliarden Reais aus dem Haushalt von einem Programm auf ein anderes übertragen werden. Eine andere Möglichkeit wäre, dass die Regierung eine neue vorläufige Maßnahme erlässt, die die in der ersten Maßnahme gesetzte Frist für die Aufhebung von „Bolsa Família“ ändert. Darüber hinaus könnte der Kongress während der Behandlung des Parlaments den Abschnitt streichen, der das Gesetz „Bolsa Família“ aufhebt. „Im Moment ist allen kalt im Bauch“, analysiert Sandra Brandão. „Bis jetzt gibt es keinen Wert und keine Mittel, um (den Auxílio Brasil) zu bezahlen und die Bolsa kann nicht mehr bezahlt werden, weil sie am 7. November nicht mehr existiert.“
1 US-Dollar entspricht 5,64 Reais
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