Olympische Spiele in China, Handballweltmeisterschaften in Ägypten oder demnächst die Fußballweltmeisterschaft in Katar – Autokratien oder illiberale Regime sind zunehmend Ausrichter von Sportgroßveranstaltungen. Können solche Mega-Events, die vor den Augen der Weltpresse ausgetragen werden, eine Öffnung oder gar Schwächung des politischen Regimes bewirken? Gibt es einen Zusammenhang zwischen politischer Repression und der Austragung solcher Sportveranstaltungen? Mit diesen Fragen haben sich Dr. Christian Gläßel, (Hertie School), Adam Scharpf, (Universität Kopenhagen) sowie Pearce Edwards (Carnegie Mellon Universität, USA) in ihrer Studie „International Sports Events and Repression in Autocracies: Evidence from the 1978 FIFA World Cup“ beschäftigt. Darin kommen sie zu einem eindeutigen Ergebnis: Sportgroßveranstaltungen in Autokratien führen eher zu einem Anstieg der Repression gegen politisch Andersdenkende statt zu einer Abnahme von Gewalt und Unterdrückung. Und zwar genau dann, wenn die Weltöffentlichkeit nicht so genau hinschaut: vor und nach dem Turnier.
Anhand der Fußballweltmeisterschaft in Argentinien 1978 können die Forscher zeigen, wie strategisch Gastgeberregime ihre repressiven Operationen an den Turnierplan anpassen, um sich während der Spiele als gute, friedliebende Gastgeber zu inszenieren. Für ihre umfassende Analyse werteten die Autoren unter anderem die Tatumstände tausender staatlicher Entführungen und Morde aus, die die argentinische Wahrheitskommission nach dem Ende der Diktatur 1983 rekonstruiert hatte. Daher lassen die Ergebnisse keine pauschalen Schlussfolgerungen für andere Sportveranstaltungen in Autokratie zu. Dennoch identifizieren die Autoren in ihrer Studie grundlegende Repressionsmuster, die sie stichprobenartig auch bei anderen Sportveranstaltungen wie den Olympischen Spielen in China (2008) oder dem Africa Cup of Nations in Ägypten wiederfinden lassen.
Repression in drei Phasen: vor, während und nach dem Turnier
„Sportgroßveranstaltungen in Autokratien produzieren in der Regel schon vor dem ersten Anpfiff Verlierer: Oppositionelle, Regimegegner und Andersdenkende. Anhand der WM in Argentinien 1978 zeigt sich ein deutliches Muster: Um perfekte Spiele zu präsentieren, nehmen die Repressionen immer dann zu, wenn die Weltöffentlichkeit nicht so genau hinschaut: vor und nach dem Turnier“, so Christian Gläßel, Postdoktorand am Centre for Security der Hertie School und Mitautor der Studie.
Die Ergebnisse der Studie offenbaren drei Phasen staatlicher Repression: vor während und nach internationalen Sportveranstaltungen. Schon mehrere Wochen vor dem Eröffnungsspiel in Buenos Aires wurden 1978 in Argentinien potenzielle Unruhestifter systematisch entführt oder ermordet. Während der Weltmeisterschaft selbst beschränkte sich die staatliche Repression dann auf ein Minimum, um laut Autoren keine schlechte Presse zu riskieren. Nach dem Finale und der Abreise ausländischer Journalist:innen, startete das Regime eine zweite, wenn auch kürzere Welle der Gewalt.
Entführungen im Schatten der Live-Übertragungen
Während der WM sticht vor allem die punktgenaue Koordinierung der Repressionen mit dem Spielplan der WM hervor. Je näher eine Region an einem Austragungsort der WM lag, desto stärker sind die Anstiege der Repressionen vor und nach der WM. „WM-Austragungsorte stellten für die Machthaber in doppelter Hinsicht eine erhöhte Gefahr dar: Die räumliche Nähe zwischen Oppositionellen und internationalen Beobachtern, sowie die Gefahr das Repressionen aufgrund erhöhter Aufmerksamkeit während der WM, leicht in den Fokus der Medien geraten könnten“, so Gläßel. Daher mussten Regimegegner möglichst schon vor der WM ausgeschaltet werden, ohne dass die Weltöffentlichkeit davon Notiz nehmen konnte. In Städten hingegen, die nicht Austragungsorte der WM waren, konnten die Autoren keine nennenswerten Veränderungen der Repressionsmaßnahmen feststellen. Hier waren die Risiken für das Regime überschaubarer, da diese Regionen weit weniger im Fokus des internationalen Interesses standen. „Eine Anpassung der Repressionsmaßnahmen an den Spielplan, erachtete die Junta als nicht nötig“, so der Sicherheitsexperte.
Auch für die wenigen Entführungsaktionen, die das Regime während des Turniers durchführte, spielte die Aufmerksamkeit ausländischer Medienvertreter:innen eine entscheidende Rolle. Während die Geheimdienste vor und nach der WM ihre Zielpersonen bevorzugt nachts und in den frühen Morgenstunden entführten, schlugen sie in den Wochen des Turniers immer dann zu, wenn die Journalist:innen mit der Berichterstattung über die Fußballspiele beschäftigt und somit abgelenkt waren, also auch tagsüber und in den frühen Abendstunden.
Repressionen und Sportevents: ein wiederkehrendes Muster
Für die Autoren der Studie ist die Vorgehensweise der argentinischen Regierung die logische Konsequenz, die sich aus den Kosten-Nutzen Abwägungen autokratischer Regime ergibt. Olympische Spiele und Weltmeisterschaften bieten Autokrat:innen während der Wettkämpfe eine nahezu ungeteilte Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Diese Bühne versuchen sie strategisch zu nutzen, in dem sie ein Bild der Offenheit, Gastfreundschaft und Einigkeit zeichnen. Allerdings bringe das Scheinwerferlicht auch Gefahren für die Machthabenden so die Autoren. Sie müssen befürchten, dass Oppositionelle unter dem Schutz ausländischer Journalist:innen ihre Unzufriedenheit veröffentlichen. Aus diesem Grund, so die Forschenden, sind Autokrat:innen grundsätzlich daran interessiert, die kritische Zivilgesellschaft präventiv auszuschalten, um einen möglichen Kontrollverlust zu verhindern und die Fassade des friedlichen Gastgebers aufrechterhalten zu können.
Den Autoren der Studie zufolge stellt die Fußballweltmeisterschaft 1978 in Argentinien bei weitem keinen Einzelfall dar. In ihren Recherchen stießen sie auf das immergleiche Muster: Angefangen bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin, über den Boxkampf zwischen Muhammed Ali und George Foreman in Zaire unter Diktator Mobutu Sese Seko, bis hin zu den Olympischen Spielen von Peking beobachten die Autoren einen Anstieg der Repressionen vor allem im Vorfeld dieser Veranstaltungen. Laut den Forschenden sind diese Parallelen umso besorgniserregender, als sich der Anteil autokratischer Gastgeber von Sportgroßveranstaltungen gemäß ihrer Untersuchung seit Ende des Kalten Krieges von rund acht Prozent (1990) auf mehr als 37 Prozent fast verfünffacht hat.
Vergabe von Sportevents an Autokratien muss überdacht werden
Die Autoren der Studie leiten daraus ab, dass internationale Sportgroßveranstaltungen generell nicht an Diktatoren vergeben werden sollten. Dafür ist ein breites gesellschaftliches Bündnis nötig, das Druck auf Politik, Verbände und Sponsor:innen ausübt. Bereits an autokratische Regime vergebene Turniere sollten nicht nur diplomatisch, sondern vor allem medial frühzeitig boykottiert werden. Nur so könne es gelingen, den Gastgeberregimen die große Bühne zu entziehen und Andersdenkende nicht zusätzlich zu gefährden. Mit Blick auf die bevorstehende Weltmeisterschaft in Katar brauche es daher eine öffentlich Debatte darüber, wie sich westliche Politiker:innen und Journalist:innen verhalten sollten, um Menschenleben vor Ort nicht ungewollt in Gefahr zu bringen.
Hintergrundinformationen
Für die Studie „International Sports Events and Repression in Autocracies: Evidence from the 1978 FIFA World Cup“ haben Dr. Christian Gläßel (Hertie School), Dr. Adam Scharpf (Universität Kopenhagen) sowie Dr. Pearce Edwards (Carnegie Mellon Universität, USA) anhand Auswertungen umfangreicher Daten der argentinischen National Commission on the Disappearance of Persons (CONADEP 1984) den zeitlich-räumlichen Zusammenhang von Repressionen der argentinischen Militärjunta im Umfeld der Fußball-Weltmeisterschaft in Argentinien von 1978 untersucht. Aus den gewonnenen Daten und Auswertungen zeihen die Autoren ebenfalls Rückschlüsse zu anderen Sportevents in Autokratien.
Die Hertie School in Berlin bereitet herausragend qualifizierte junge Menschen auf Führungsaufgaben im öffentlichen Bereich, in der Privatwirtschaft und der Zivilgesellschaft vor. Sie bietet Masterstudiengänge, Executive Education und Doktorandenprogramme an. Als universitäre Hochschule mit interdisziplinärer und praxisorientierter Lehre, hochklassiger Forschung und einem weltweiten Netzwerk setzt sich die Hertie School auch in der öffentlichen Debatte für „Good Governance“ und moderne Staatlichkeit ein. Die Hertie School wurde 2003 von der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung gegründet und wird seither maßgeblich von ihr getragen. Sie ist staatlich anerkannt und vom Wissenschaftsrat akkreditiert.
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