Ab nächster Woche werden sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) und Lateinamerikas in Brüssel treffen. Das letzte Mal geschah dies im Jahr 2015. In diesen acht Jahren hat sich in den Beziehungen zwischen den beiden Kontinenten viel verändert. Es könnte ein Realitätscheck für die Europäer sein: Europa hat seine Anziehungskraft in Lateinamerika verloren. In diesen acht Jahren hat eine Entfremdung stattgefunden, die sich nun beschleunigt. Nach dem letzten EU-CELAC-Gipfel war Lateinamerika vor allem mit sich selbst und seinen Krisen beschäftigt: Die Region wuchs kaum und Unternehmen aus Europa reduzierten ihre Investitionen. In mehreren Ländern, von Chile über Bolivien bis Peru, brachen soziale Unruhen aus.
Die Wahlen haben neue Staatschefs an die Macht gebracht, die wenig Interesse an Europa gezeigt haben: Dies war der Fall bei Jair Messias Bolsonaro in Brasilien und auch bei Andrés Manuel López Obrador in Mexiko. In Europa war die Sympathie für beide Präsidenten minimal. Und schließlich hat die Pandemie Lateinamerika mit Ungestüm heimgesucht. Dies ist zum Teil auf die Politik zurückzuführen, aber auch auf die Gesellschaft, in der die Mehrheit der Bevölkerung arm ist und im informellen Sektor arbeitet – das heißt, sie konnte sich nicht abkapseln. In diesen Jahren hielten sich die Solidaritätsbekundungen und das Engagement aus Europa in Grenzen. Die Lateinamerikaner nahmen zur Kenntnis, dass Europa bei den Lieferungen von Covid-Impfstoff in die Region fast nicht vertreten war, während China und Russland Impfstoffe für fast alle lateinamerikanischen Länder zur Verfügung stellten.
Doch dann kam die geopolitische Wende mit Russlands Einmarsch in der Ukraine. Europa verlangte von Lateinamerika eine klare Verurteilung Russlands. Bei wichtigen Abstimmungen in der UNO kamen die Staaten dem einigermaßen nach. Bei Sanktionen gegen Russland oder Waffenlieferungen an die Ukraine hielten sich die Länder jedoch zurück. Aus der Sicht Lateinamerikas handelt es sich um einen Krieg in Europa, der wenig mit ihnen zu tun hat. Das ist aus europäischer Sicht schwer zu verstehen. Mit dem Krieg ist aber das Interesse Europas an Lateinamerika plötzlich wieder gewachsen. Europa ist auf die demokratischen Staaten Lateinamerikas angewiesen: sei es bei Abstimmungen in Foren wie der UNO, sei es bei der Gestaltung der Außenpolitik als einer Politik von globalem Interesse.
Europäischer Opportunismus?
Für die Lateinamerikaner sieht das wie Opportunismus aus: Jetzt, wo Europa plötzlich Solidarität im Krieg gegen Russland einfordert, ist Lateinamerika wieder wichtig geworden. Ein Partner, mit dem sie – wie die Europäer derzeit oft erklären – auf Augenhöhe verhandeln wollen. Die Fragen bleiben: Was wurde früher gemacht? Wie kann man mit Partnern ohne Gleichberechtigung strategisch verhandeln? Gleichzeitig hat eine geostrategische und wirtschaftliche Aufwertung Lateinamerikas stattgefunden – denn Russland ist kein Energielieferant mehr und China wird im Westen zunehmend als unzuverlässiger Partner gesehen. Damit ist Lateinamerika für die Wirtschaft wieder attraktiv geworden: für Unternehmen, die ihre Aktivitäten von China in die westliche Hemisphäre verlagern wollen. Für Unternehmen, die Rohstoffe für die Energiewende benötigen – von Kupfer über Lithium bis hin zu grünem Wasserstoff. Die neue Realität der Beziehungen zwischen Europa und Lateinamerika ist: Europa braucht Lateinamerika heute mehr als umgekehrt.
Ein Beispiel dafür ist das Handelsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Mercosur (Brasilien, Argentinien, Paraguay und Urugiy). Eigentlich wollen die Europäer ihren südamerikanischen Partnerländern diktieren, zu welchen Bedingungen sie in Zukunft Geschäfte machen wollen. Lateinamerikanische Agrarprodukte und Mineralien werden aber von den Käufern selbst nachgefragt – ein Freihandelsabkommen ist dafür nicht entscheidend. Wenn südamerikanisches Soja oder Fleisch von den europäischen Verbrauchern aus Umweltgründen nicht mehr gekauft wird, müssen die südamerikanischen Landwirte mit dieser Realität leben und werden mit Sicherheit andere Märkte finden. Gleichzeitig wollen die Europäer Rohstoffe kaufen, die strategisch wichtig sind. Aber warum sollten die Südamerikaner ihre Märkte stärker für europäische Produkte öffnen, wenn ihnen wenig geboten wird?
Die Europäer sind und bleiben arrogante Axxlöcher gegenüber Lateinamerika, völlig relitätsfremde und auch respektlose Art!