In Jacmel bleiben gemischte Eindrücke. Es beginnt schon mit der Bergstraße über den Kordillerenpass, hinüber ins karibische Becken. Über lange Strecken mustergültig, selbst von Radlertouristen passierbar, und unversehens wieder bis auf den Unterbau zerstört, an mächtigen Erdrutschen und Kolonnen von Maultieren mit geflochtenen Sätteln vorbei, selbst die Blauhelme reparieren mit schwerem Gerät, bewaffnete Schildwachen halten Neugierige und Diebe fern.
Die Bank in Jacmel reagiert freundlich und lässt mich trotz Minuten Verspätung noch rein, man begleitet mich sogar an einen Vorzugsschalter und blitzschnell bin ich bedient. Mit ein paar Dollars in der Tasche kann ja nichts mehr passieren, in diesem Land. Viele bescheidene Holzhäuschen der Einheimischen sind stehen geblieben, andere liegen flach und halten nicht mal mehr eine Liegestütze aus. Es scheint wirklich, dass neuzeitliche Baustoffe ausgedient haben in Haiti.
Natürlich suche ich zuerst Yvan, meinen Zigarrendreher. Ich habe ja noch einige Schulden zu begleichen, von VOR dem Beben. Wir fahren an den Standort seines einstigen Hauses und werden rasch fündig, obschon von der ehemaligen „Zigarrenfabrik“ nur noch wenige Mauern in den Himmel ragen. Yvan harrt im Nebenhaus aus und zeigt uns einige Zelte auf den Nachbardächern, die den Anwohnern als provisorische Wohnung dienen. Er ist froh, zur Zeit des großen Desasters gerade auswärts gewesen zu sein, wie ich, und ist dankbar, dass ihm so wenigstens das Leben gerettet wurde, wie mir. Er möchte so gern arbeiten, und ich hätte ihm sogar einen kleinen Auftrag. Aber es fehlen Werkzeuge, Tabakblätter, alles was man zum Drehen braucht. Ich gebe ihm eine kleine Hilfe.
Gemischt sind auch die Eindrücke von der Stadtdurchfahrt. Neben völlig intakten Häusern gibt es vollkommen zusammengebrochene. Die alte Schweizerschule ist rissig und steht leer, wenig später folgen die sauberen Pavillons der neuen, der Bericht darüber erschien ja schon gestern, endlich einmal ein sehr positiver Eindruck. Ein Besuch wird später erfolgen. Mein einstiges Lieblingshotel Cyvadier-Beach steht nicht mehr, mindestens ein Trakt, der mehrstöckige, wo ich immer mein Zimmer hatte, ist über die Klippen hinuntergestürzt ins karibische Meer. Auch andere liebgewonnene Häuser sind verschwunden. „Unser“ kleines Hotel „Amitié“ (Freundschaft) steht noch und ist so reizvoll wie seit jeher, und Menschen und Hunde kennen uns von weitem und feiern unsere Anwesenheit. Allerdings sind die wenigen Zimmer durch Rotkreuzleute und andere gute Geister restlos besetzt, aber Patrice beschafft uns trotzdem ein Zimmer.
An eine Einfahrt in den Hof ist nicht zu denken, und so lassen wir den Pickup draußen an der Straße stehen. Um den ansehnlichen Verkehr von Lastwagen nicht zu behindern, versuche ich etwas näher an die Randmauer zu fahren, dass das der Nachbar gar nicht schätzt und durch vorbereitete Nägel verhindert hat, bemerken wir erst zu spät. Mit lautem Gezisch entweicht die Luft, und das Fahrzeug steht auf den Felgen. Melissa sucht vergeblich Hilfe bei der örtlichen Polizei, aber damit ist nichts – „das sei normal“, lacht man lakonisch, und zudem läuft gerade ein Match in Südafrika.
Spätabends kommt der Nagelsetzer nach Hause und erweist sich als sehr hilfsbereit. Mit einem halben Dutzend Helfern an der Seite ist der Schaden rasch behoben, und man erklärt uns freundlich, die Nagelmauer sei nicht gegen Touristen, sondern gegen die mächtigen Lastwagen, vor allem der UNO gemeint, die mit ihren schweren Brummern so schwache Mauern immer wieder zerstörten. Nach dem „Krieg der Nägel“ widmen wir uns endlich einem währschaften karibischen Nachtessen, aber der heutige Tag ist für uns vorbei, und aller Ausgang auf morgen verschoben.
Einige Zeit nach der üblichen Geisterstunde schreckten wir auf, und ich glaubte zuerst an ein neues Erdbeben, wie immer. Melissa hat im Dunkeln oder Halbschlaf oder beidem die Toilette ertastet und sich am Lavabo abgestützt. Die Einrichtung stürzte unter lautem Krachen zusammen, und auf dem Boden lagen nur noch Scherben und Röhrenstücke. Fast wie am 12.Januar. Das Schlimmste, das unter Hochdruck Wasser aus der Leitung zischte, und im Nu alles überschwemmt war. Ich war unterdessen auch aufgeschreckt und vollzog meine Bergungsaktionen, Computer die zum Batterieladen am Boden standen, Telefone aus dem gleichen Grund, usf. Zum Glück hatte Melissa die rettende Idee, nach einem Zuflusshahn zu suchen und diesen zu schließen. Schäden erlitten wir glücklicherweise keine.
Mit Maela, die sich unterdessen zu einer kleinen Dame entwickelt hat, ergab sich übrigens noch eine lustige Diskussion. Ich habe, der „Normalheit“ zulieb bekanntlich auch einige kleine Laster, etwa hie und da eine Zigarre oder einen kleinen Sprutz Rhum ins Cola, ist doch herrlich. Als das Maela beobachtete, wollte sie mich fürsorglich auf die Gefahren des Zuviels aufmerksam machen und sagte, aber das sei gefährlich für meine Gesundheit. Ich solle lieber das im Roten Fläschchen da trinken, ich nenne den Namen nicht, da die ohnehin schon zu viel Reklame haben. Dass dies Maelas Lieblingsgetränk ist, hängt ja mit ihrem Alter, der roten Etikette, dem schwungvollen Schriftzug, der herrlichen Eiskühle und eben – der allgemeinen Mode zusammen, klar. Aber dass ich das folgende „Colaismus“ nenne, als Bild für die Globalisierung verstehe und als eine der großen Ursachen für die Verarmung der Welt ansehe und stattdessen einen kleinen Sprutz Rhum und „Production Nationale“ (einheimisches Produkt) vorziehe und das besser sein soll, ist doch schwer zu begreifen.
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