Die Momance ist ein „ambivalenter“ Fluss und hat schon in vielen Geschichten zu lesen gegeben. Sie strömt zuerst in Ost-westlicher Richtung durch ein kerzengerades Tal, das das Epizentrum des kürzlichen Riesenbebens versteckt, und bricht dann zwischen Léogâne und Gressier aus der Küstenkordillere aus, bildet ein beachtliches Delta und strömt in den Prinzengolf.
Die Niederschläge in Haiti, dem Nachbarstaat der Dominikanischen Republik, fallen bekanntlich unregelmäßig und oft Langezeit überhaupt nicht. Dann liegt der oberirdische Lauf der Momance trocken und wurde seit Urzeiten zu Fuß und in den letzten Jahrzehnten durch Autos und Motos durchquert, oder in der Längs-Richtung als Straße benützt. Der verbleibende Wasserkörper hat sich dann in die Unterwelt verzogen, die Entwässerung funzt unterirdisch. Das kostbare Gut verirrt sich dabei bald zwischen wasserdichte Tonschichten. Durch das Übergewicht des oberhalb liegenden Grundwasserkörpers kommt das unterirdische, zwischen den Nichtleitern eingestaute Wasser unter Druck und wird talwärts gepresst, man spricht dann von einem „gespannten Grundwasserleiter“.
Es entsteht ein artesisches Becken. Bei natürlichen Durchlässen durch die spannende Oberschicht oder künstlichen Bohrungen treten artesische Quellen zutage, oft unter hohem Druck. Das kann zu geysirähnlichen Spritzbrunnen führen, Bauherren brauchen hier keine Pumpen.
Die Momance entwässert ein gigantisches Einzugsgebiet und kann sich innert Augenblicken zum reißenden Schüttstein verwandeln. In meiner früheren Haftzeit gab es zuerst keine Brücke über den Fluss, und unzählige Fahrzeuge und auch Menschenopfer wurden meerwärts gespült. Seit einigen Jahren wird dies durch eine massive Brücke verhindert, wenigstens bei der Flussüberquerung. Aber da es selbst bei entfernten Wolkenbrüchen zu Sintfluten kommt, sogar unter stahlblauem Himmel und bei prallem Sonnenschein, werden Leute die sich im Flussbett aufhalten immer noch überrascht und getötet.
Gestern kam es wieder einmal dazu, allerdings nicht bei heiterem Himmel. Ein Wolkenbruch hatte das weite Umland erfasst. Es war NICHT der längst erwartete, von Medien und Nichtkennern so bezeichnete Zyklon oder Hurrikan, dazu fehlten die nötigen Sturmwinde. Trotzdem waren die Momance und andere Flüsse der Region Léogâne über die Ufer getreten und hatten weite Regionen unter Wasser gesetzt. Die Katastrophenschutzorgane bliesen Alarm, und mehrere Menschen kamen ums Leben.
Jetzt scheint wieder warme Sonne aus blauem Himmel, es ist tags darauf, der 22. Juli 2010, ich sitze auf dem Dach der Bergburg, eine leichte Brise weht und bringt angenehme Kühle. Etwa 3/8 weiße Schäfchenwolken werfen ihre Schatten zu Boden – man spricht von der Wolkendichte in Achteln ( Fliegerlatein ) – , die Prinzenstadt mit den Ruinenfeldern und den vielen, gut sichtbaren Zeltlagern liegt scheinbar friedlich im Sonnenschein, tief unter mir.
SCHEINBAR friedlich, denn heute ist Generalstreik. Die Bevölkerung protestiert gegen die Beschlüsse des Wahlrats, der von den noch bestehenden Senatoren eingesetzt wurde, um die im November vorgesehenen Präsidialwahlen vorzubereiten. Im Februar 2011 sollte ein neuer Präsident antreten. Ausländische Universitäten protestieren dagegen, dass sich der jetzige Präsident überhaupt mit diesem Thema auseinandersetze; er hätte bei den Problemen des Landes Gescheiteres zu tun, als sich mit der Wahlthematik auseinanderzusetzen. Und um zehn Uhr kommt bereits eines der Kinder zurück; es sei keine Schule, es sei Streik.
Hurrikane, Wahlen, was denn noch ? Eine Leserin hat mir vorgeworfen, meine Artikel seien „zu ambivalent“. Tut mir leid, dass täglich Mehreres geschieht, dass das Leben hier eben so ambivalent ist. Ich melde mich wieder, wenn sich was ändert, in Sachen Hurrikane und in Sachen Wahlen.
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