Maela: Waise ohne Zukunft in Haiti

Maela

Datum: 22. November 2009
Uhrzeit: 12:55 Uhr
Leserecho: 1 Kommentar
Autor: Redaktion
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

MaelaEs ist morgens 4 Uhr, ich bin noch auswärts und erwacht weil ich den Lichtschalter eingeschaltet hatte damit ich merke wenn Strom komme, was soeben geschehen ist. Gestern bin ich spät von einer Dreitagesfahrt zurückgekehrt, müde, in dunkler Nacht, was ich in diesem Land sonst zu vermeiden suche. Es gab keinen Strom, jetzt hat er also gezündet, und ich muss etwas loswerden. Nach jedem Ausflug hier muss ich viel Neues loswerden, Herrliches, aber leider oft auch Trauriges.

Die Südküste ist ein wunderschönes Gebiet, die Wiege des zukünftigen Tourismus. Einige Kilometer nördlich Jacmel liegt der schönste Strand Haitis, reiner Sand, einzigartige Landschaft, Kokospalmen, mit Palmblättern bedeckte Hütten, kaum Menschen am Strand. Ein Paradies wie aus dem Bilderbuch. Erst wenige haben es entdeckt. Darunter die paar Gäste in dem kleinen, einfachen Hotel. Es sind ausnahmslos Mitarbeiter humanitärer Organisationen, um armen Kindern zu helfen, wie die Amerikaner und Franzosen betonen. Auch Ärzte ohne Grenzen. Dass es in dieser Gegend genug Arbeit für die gibt und Kinder hier ganz in der Nähe zu Dutzenden verhungerten, haben Sie vielleicht schon gelesen.

Sie leisten ja gute, unentbehrliche Arbeit, die Funktionäre der NGOs (non-governmental organizations), die hier mit ihren neuen Autos ein bisschen Ferien verdienen, gottlob. Mein Eindruck ist, dass sie zu wenig Kreolisch sprechen und zu wenig Kontakte haben mit der wirklich notleidenden Unterschicht, die eben kein Französisch oder Englisch versteht und sich auch fürchtet, überhaupt zu sprechen, und sich versteckt. Die verweinten Augen der kleinen Maela jedoch sprechen für sich, und als meine Begleiterin mit ihr zu reden beginnt, fängt Maela an zu weinen.

Die NGO-Funktionäre merken nicht, dass sie in nächster Nähe der Probleme sind. Maela ist 11, Vollwaise, eines von mehreren Kindern, die im Hotel arbeiten müssen. Unbezahlt, sie erhalten die Reste des Essens, das die Gäste stehen lassen, und arbeiten bis zu 16 Stunden im Tag. Dass wir mit Maela sprechen konnten, ist ein unglücklicher Zufall, denn es ist den Kindern verboten, sich Gästen zu zeigen oder gar mit ihnen zu sprechen. Unglücklicher Zufall für Maela, weil sie jetzt vielleicht mit der großen Lederpeitsche geschlagen wird, und das geschieht täglich. Sie ist verletzt und zeigt uns Narben.

In der Schule war sie noch nie, die ist nicht für arme Kinder. Sie müssen ihre Wäsche selber waschen, und wenn das nach Meinung des „Hoteliers“ nicht sauber genug geschieht, wirft er die Kleider in den Regen hinaus und sie muss sie nass tragen. Wir überlegen uns, wie man der kleinen Maela auf privatem Weg helfen könnte. Das muss sehr vorsichtig geschehen, denn der Hotelbesitzer ist auf die Kinderarbeit angewiesen und will natürlich weder ein Sklavenkind gehen lassen noch sehen, dass seine Probleme bekannt werden.

Laut Kindernothilfe.de schuften 300’000 Kindersklaven in Hotels und Haushalten. Rechtlos, abhängig, ausgeliefert müssen sie putzen, waschen, Wasser holen, Kinder hüten. Geld bekommen sie nie, dafür Prügel bei jeder Kleinigkeit. Sie werden nie eine Schule besuchen können. Niemand wird ihnen jemals sagen, dass es so etwas wie Kinderrechte gibt auf dieser Welt. Zehn Prozent der 5- bis 17-Jährigen sind Kindersklaven. Und das in dem Land, das 1804 als erster Staat die Sklaverei abschaffte und mit hohem Blutzoll auch Venezuela, Peru und Kolumbien bei der Befreiung der Sklaven half. Und das stolz ist auf „die Abschaffung der Sklaverei“ und diese Heldentat fast in jedem Lied oder Gedicht besingt.

Man nennt die Kindersklaven in Haïti „Restavèk“, von dem französischen „rester avec“, bei jemanden bleiben. Wenn Restavèks krank werden, bekommen sie keinen Arzt, sondern Prügel. Weil sich die wirtschaftliche Lage immer weiter verschlechtert, werden Kindersklaven sogar exportiert. Die OIM (Internationale Organisation für Migration) schätzt, dass jährlich 2000 haitianische Kinder von Schlepperbanden über die Grenze in die Dominkanische Republik geschafft und dort als Arbeitssklaven verkauft werden. Polizisten, Soldaten und Grenzbeamte verdienen mit. Die Regierung hat andere Sorgen: Zwei Drittel der Menschen leben in absoluter Armut. Entführungen, Bandenkämpfe mit Schießereien, Raubüberfälle und Drogenkriminalität sind in beiden Ländern alltäglich. Das Sklavendasein der Restavèks endet erst, wenn sie von ihren Herren davongejagt oder totgeschlagen werden. Die Kinder sind dann oft 17 Jahre alt, die Mädchen sexuell missbraucht und HIV-infiziert. Jeder zwanzigste Einwohner Haitis ist HIV-positiv.

Selten gibt es Kinder, denen die Flucht gelingt. Sie kommen nachts zur Kirche, um dort auf Treppen zu schlafen. Manchmal erbarmt sich ein Pfarrer und öffnet den Kindern nachts die Kirche, sonst sind sie Freiwild. Die Schutz- und Waisenhäuser sind überfüllt, sie tropfen nur auf einen heißen Stein. Laut der Internationalen Arbeitsorganisation sind weltweit 10 % der Beschäftigten im Tourismus Kinder. Davon werden laut UNICEF eine Million sexuell ausgebeutet.

In diesem Land gibt es tausende von Maelas. Zum Glück ist die Welt erwacht und schickte, ebenfalls zu tausenden, ihre Helfer hierher. Aber wie Beispiel zeigt, kommen die oft nicht an die Probleme heran, die sich vor ihren Augen abspielen. Da ist noch sehr, sehr viel Entwicklungsarbeit seitens von UNO-Fachleuten, Denkern, Ministern, Sprachlehrern, Psychologen, Soziologen zu leisten, und indessen geht das Elend an tausenden von Kindern weiter. Und meine Freunde „drüben“ können unisono noch fragen, warum ich in so einem „Land“ bleiben könne. Ich schreie ihnen entgegen: ändern sich diese Missstände eher, wenn wir wie Vogel Strauß den Kopf in den Sand stecken ?

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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