Verschwitzt und im Bikertenu radelt er durch die Straßen, er weiß wie man Stimmen fängt, Jugend motiviert. Das hat man noch nie erlebt – man vergleiche etwa amerikanische Präsidenten, die im Stop-And-Whistle-Train, im Sonderzug der Bahn, das Gleiche taten.
Der Jahrhundertrapper kann sowohl mit dem Radlerkostüm als auch mit dem Nadelstreifenanzug gekonnt umgehen, er weiß, wann man was trägt. Er weiß auch, wann man was spricht, und weiß sich in Englisch und Französisch so gut wie in Kreolisch auszudrücken. Obschon ihm ein naseweiser Zeitungsschreiber vorgeworfen hat, man höre dass er mit neun Jahren schon ausgewandert sei, und nicht Kreolisch spreche wie ein Einheimischer. Wyclef erwiderte schlagfertig, aber der jetzige Präsident spreche doch auch weder richtig Französisch noch Englisch, und das gute Kreolisch werde er mit der Anwesenheit im Land wieder rasch kapieren.
Tatsächlich ist es für einen zukünftigen Präsi ein Nachteil, wenn man ihm zu lange Auslandaufenthalte anhört, aber in diesem Fall wird die Regierung ein Auge zudrücken, war doch sie es, die ihn als Botschafter so lange ins Ausland schickte.
Dass er keineswegs abgehoben wirkt, sondern virtuos immer die Sprache der Zielgruppe spielt, zeigen auch seine Einsätze bei den Gangstern in Cité Soleil, zu denen sonst niemand Zutritt hatte. Cité-Soleil war ein weltberüchtigtes Ganovenquartier, das keine staatliche Macht akzeptierte und Polizisten, Soldaten und Zivilisten einfach umbrachte, meist durch Köpfen ohne Gerichtsurteil. Wyclef aber ging hin, stiftete Frieden zwischen den Gangs und kam unbeschadet zurück. Er weiss wie man mit jeder Gruppe umgeht: Gangstern, Armen, Prominenten und Politikern. Seine Wahl als Präsident wäre eine Neuheit in der Politik – ein linker Staatspräsident mit rechtem Benehmen!
Am 17. Oktober 1972 wurde Wyclef als Pfarrerssohn in Croix-des-Bouquets geboren. Mit neun Jahren zog seine Familie nach Brooklyn. Er schrieb Songs und Texte. Mit der Gruppe The Fugees gewann er verschiedene Grammys und stieg eine steile Karriereleiter empor. Er gründete Yéle Haiti mit dem Ziel, überschaubare, effektive Projekte zu Bildung, Gesundheit, Umwelt und Gemeinwesenarbeit auszuführen. Nach der Katastrophe vom 12. Januar nahm Jean eine Benefizsingle mit Mick Jagger auf und organisierte für den 22. Januar 2010 ein großes Benefiz-Rockkonzert unter dem Titel Hope for Haiti mit den berühmtesten Musikern. Sein Hauptanliegen war stets die Bekämpfung der Armut.
Rechtzeitig hat sich der Erfolgsrapper für die Präsidentschaft beworben. Und schon sass Wyclef im CNN-Studio und parierte die neugierigen Fragen von Larry King. Die führenden Zeitungen wie Financial Times, USA Today oder Westdeutsche Allgemeine brachten die Sensation, teils schon am Vortag, und die deutsche Bild-Zeitung bezeichnete seine Kandidatur als „eine Bombe“. Der Mann weiß wahrhaft, wie man mit Medien umgeht!
Wyclef sagte vor CNN, zwei Millionen Menschen müssten raus aus der Stadt, er verspreche den Obdachlosen neue Siedlungsräume und Wohnungen. Die Hauptsäulen seiner Politik würden Bildung, Schaffung neuer Jobs, Landwirtschaft, Bergbau und Sicherheit sein. Über Wasser, Nahrung und Gesundheit sprach er nicht, wohl in der Annahme, die würden für immer von außen gewährleistet. Die Wahlen finden am 28. November statt. Sein Bruder erklärt: „Der Großteil der Bevölkerung ist unter 26. Die jungen Leute reißen sich um ihn.“ Er selbst sagte nach der Registrierung gegenüber den Journalisten: „Ich möchte Präsident Barack Obama sagen, dass die USA Obama haben und Haiti Wyclef Jean.“
So radelt er unbeirrt durch die Pfützen Amerikas und lässt sich von den Fernsehkameras gebührend begleiten. Als Pfützenradler ist er sich einiges an Schlammspritzern gewohnt, sodass ihm auch die Tomaten und Eier aus der zu erwartenden Schlammschlacht nichts anhaben dürften. Bereits wühlen die Republikaner und andere Wühlmäuse in der Schmutzkiste, die Schlammschlacht hat begonnen. Hoffentlich gehen die Treffer daneben.
Wyclef wäre nach König Henri I. (Royale Dahomey u.a.) schon das zweite der 69 Staatsoberhäupter des Landes (Liste der Staatsoberhäupter), das aus dem Ghetto an den Sternenhimmel aufgestiegen ist und das „Märchen vom Tellerabwäscher zum Millionär“ wahr gemacht hat. Dem Mann mute ich die Fähigkeit zu, auch andere Märchen wahr zu machen.
Dem Mann, der aus dem Ghetto auferstanden ist, der für die Armen singt und sammelt, und vor der Kamera weint, der sich mit Radtrikot, Radlerhose und Bikerrucksack ebenso gut fühlt wie im Streifenhemd, mit seidener Krawatte und im Nadelstreifenanzug, der seinen Drahtesel spazieren führt wie seinen zahmen Löwen, der in der UNO-Vollversammlung und mit Staatspräsidenten zu sprechen weiss wie mit den Gangsterbossen von Cité-Soleil, der Obama bei der Wahl geholfen hat und jetzt auf Gegenrecht hofft, und alle Chancen hat, selber ein Obama zu werden, ein Obama von Haiti, diesem Mann wünsche ich einen guten Start auf seiner Umlaufbahn.
Und ob so viel Wyclef vergisst man fast, dass das Theater nicht nur Show ist, sondern auch einen politischen Sinn macht, dem Unland das ein Land werden will, und dies mit Unterstützung der ganzen Welt im Begriff ist zu werden, einen Präsidenten zu wählen. Allen Ernstes. Der Ernst hat begonnen. Es gibt ja noch andere Kandidaten, die restliche Elite dieses Landes. Und der Diaspora. Es sind die, die sich auch noch fähig fühlen, die scheinbar unlösbaren Probleme, den Gordischen Knoten, die Quadratur des Kreises zu lösen.
Am 18. wurde ein ganzer Stadtteil von Pétion-Ville verbarrikadiert, rund ums Polizei-Hauptquartier, und um die Schweizer Botschaft, ums Zeltlager von Saint-Pierre, und ums einstmalige Geschäftszentrum. Den einzigen Ort, wo es Postfächer gab, mietbare Adressen, Fax, Internet und alles, was „bei uns Drüben“ selbstverständlich ist, ohne das NICHTS funktioniert. Es gab hier auch einen Fitness-Club, mit Foltermaschinen für die Wohlhabenden. Aber rechtzeitig fand man heraus, dass das alles hierzulande nur mit Drogengeldern finanzierbar sein konnte, verhaftete den Besitzer, entführte ihn in ein gebührendes Gefängnis in den USA, und requirierte nun selbst was für weltgefällige Wahlen nötig ist. Man will ja das Modell der Demokratie beweisen, und die Welt will ihr Gesicht nicht verlieren.
Also hat sich die Bürokratie Haitis und der Welt hier verschanzt, und die Anwärter müssen ihre schicken Karossen draußen stehen lassen und sich zu Fuß zum jetztigen Wahlzentrum bewegen, um festzustellen, ob sie noch immer im Rennen sind. Wenn sie nämlich ihre Bewerbungsunterlagen zurück erhalten, sind sie ausgeschieden. Rund ums Quartier bewegen sich seit Tagen Wyclef-Raras, so nennt man die Fahnen- und tafelschwingenden farbigen Umzüge hier, wie auf dem Foto festgehalten, und mit dem entsprechenden Lärm von Hörnern, Muscheln und anderen primitiven Instrumenten, Tanz und Gesang, eben „Rara“. Das sind Wyclefs Anhänger, das ist die Mehrheit des Volkes, DAS ist die ECHTE Demokratie. Allerdings nicht die Demokratie nach „entwickelten“ Vorstellungen.
Die Panzer und Flammenwerfer haben sie versteckt. Auch Militär sieht man kaum. Nur nicht provozieren. So viel haben sie schon gelernt, durch die ganze Geschichte. Aber es ist spannend. Und es ist heiß. Und auch die Haitianer haben gelernt. Viel gelernt. Mindestens die ungebildeten „Unterschichten“. Sie haben gelernt, was ich selber nie für möglich gehalten hätte. Sie haben sich dem fremden Hut angepasst. Sie haben „Demokratie“ gelernt. Was will die Welt denn noch?
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