Haiti: Es donnert, kracht und bebt

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Datum: 25. August 2010
Uhrzeit: 20:02 Uhr
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Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Indessen ist bereits August vorgerückt, und die Wirbelzeit hat sich noch nicht eingestellt, mit ihren Orkanböen und durch die Luft fetzenden Zelten und Hausdächern. Die Crashprognosen der Wetterfrösche haben sich zum Glück nicht erfüllt, und die andauernden Frager nach diesem Thema darf ich enttäuschen. Deshalb schreibe ich ja auch die heutige Geschichte. Mangels eines besseren Themas spricht man bekanntlich über das Wetter, das ist so üblich, auch hier. Ich liebe sie trotz allem, die entfesselten Urkräfte.

Das Wetter ist allerdings unberechenbar und wechselt sein Gesicht über den ganzen Tag, schneller als eine Uhr. Hier oben auf der Bergburg habe ich eine wunderbare Sicht über Erde und Himmel, und der Wechsel der Stimmungen ist ein Erlebnis.

Es begann mit einem weit entfernten, stummen Feuerwerk. Wohl schon im Juni. Regen und Donner gab es noch nicht, nur stumme Lichtspiele, aber die waren überwältigend. Der Himmel schien nonstop zu funkeln, das konnte stundenlang dauern, alles blieb totenstill, die Stimmung war richtig unheimlich. Es musste sich um irgendwelche Elektrometeore handeln, ähnlich unserem Alpen-Wetterleuchten. Wobei das „Leuchten“ nichts zu tun habe mit Leuchten und Licht, sagt man, sondern vom mittelhochdeutschen „leichen“ herstammen soll, was „tanzen“ oder „hüpfen“ bedeute. So würde es besser nach Haiti passen. Es möge Widerschein von Blitzen sein, die man selbst nicht sehe, oder könne bei weit entfernten Himmelsfunken entstehen, die sich innerhalb hochschwebender Wolken entladen. Es könnten auch Elfen und Kobolde oder Erscheinungen sein, über die ich noch weniger Bescheid weiß, aber die mich ebenso interessieren wie Sie – , das Internet liefert ja „alle“ Informationen… Den Hougan-Nachbar mag ich nicht mehr fragen, der verlangt Geld für seine „Auskünfte“.

Das Graben- und Gräber-Tal, die Senke des Cul-du-Sac, liegt tagsüber meist in praller Sonne und unter stahlblauem Himmel. Die säumenden Grabenränder oder Kordilleren auf beiden Seiten tauchen meist in dunkles Wolkengebräu und verstecken sich dort von früh bis spät, es kann in der Höhe auch über den ganzen Tag schütten was das Zeug hält, und in Berglagen sind unterbrochene Straßen, Erdrutsche und unpassierbare Senken trotz Sonne Alltag.

Unten aber wo Millionen von Menschen wohnen, in Nothäuschen und Zelten, herrscht tagsüber prächtiges Wetter, wie man es sich auf einer Ferieninsel vorstellt. Besonders frühmorgens erlebe ich täglich wundervolle Sonnenaufgänge mit anschließendem Flutlicht und meist stahlblauem, klarem Himmel. Es ist gut für die tausenden von Equipen die dort unten unentwegt Trümmer räumen, sogar in der Nacht, trotzdem erkennt man kaum einen Fortschritt. Den Millionen von Tonnen kommt man schwerlich bei, und der Einsatz großer Maschinen verbietet sich, kommen doch immer noch menschliche Leichen zum Vorschein.

Es ist gerade morgens acht, der oberste Himmel beginnt sich zu verzirren, was zeigt, dass sich dort oben fast keine Luft, aber eine enorme Wassermenge versteckt. Das geht dann täglich so weiter, und schließlich verdeckt ein Kumulostratus die Randberge des Grabens und nimmt alle Sicht auf Seen und Siedlungen. Irgendeinmal beginnt es zu regnen, es kann nachmittags oder erst abends sein, nein, zu schütten. Weh denen, die jetzt noch auf der Straße irren. Die Steilwege werden zu reißenden Bachbetten, selbst Vierradwagen die jetzt noch aufwärts wollen, gleiten rückwärts, seitwärts, in den Rand oder darüber hinaus, häufig bachab.

Und in den Zeltstädten mit den Flüchtlingsmillionen kämpfen Väter und Ältere mit Schaufeln und Stoßkarren, um weiteren Schlamm in den Zelten zu verhindern und den eingedrungenen wegzulöffeln. Die Frauen, Kleinkinder und Alte kuscheln sich im Innern zusammen und versuchen, dem Dreck so gut wie möglich zu entgehen. Wenn sie noch können. Denn am Fernsehen hat ein betroffenes Mädchen weinend erzählt, wie sie nicht einmal mehr liegen könnten, Schlamm und Wasser stünden über dem Bettrand. Am späteren Abend, auch mal erst um Mitternacht, hört es auf zu schütten, aber der Kampf gegen den Schlamm geht weiter.

Immer häufiger toben auch tropische Gewitter über die Landschaft, meist von prasselnden Güssen begleitet, und potenzieren die Verschlammung der Gehpfade und Zeltlager. Dann donnert es, dass es kracht und poltert, und es blitzt und bebt, beinah wie beim Erdbeben. Niemand zählt die Blitze pro Sekunde. Ich habe wirklich das Gefühl, Haus und Erde bebten wieder, und das tun sie auch tatsächlich. Aber nicht mehr aus demselben Grund wie am 12.Januar und in der Folge, sondern weil die Elemente, wie damals in der Erde, so diesmal am Himmel entfesselt sind. Diese Tropengewitter entfalten eine Energie, die der eines Erdbebens kaum nachsteht, fehlt nur noch, dass die Mauern bersten. Aber das sind sie ja schon, die meisten. Das kann so eine Viertelstunde, aber auch einige Stunden dauern, dann ist der Aufruhr der Elemente, oder der böse Spuk vorbei.

Es sind Flüsse über die Ufer getreten, Überschwemmungen haben das kostbare Agrarland verwüstet, hie und da hat ein Erdrutsch ein paar Häuser mitgenommen, oft sind auch vereinzelte Menschenopfer zu beklagen. Aber Hurrikane waren das nicht, dazu fehlten die Windböen, die Zelte, Hausdächer und sogar Autos wegtragen würden. Oft wieder mit neuen Menschenopfern. Dazu kam es bisher nicht, Gott sei’s gedankt.

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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