Hier passierte es. Am 12.Januar, als um 16.53 Uhr die Erde bebte, und die Häuser zusammenkrachten. Noch rechtzeitig erreichte ich das Freie. Ich weiß jetzt, dass einem noch 10 Sekunden bleiben für die Flucht, um sich das Leben zu retten. Der Batteriestrom des Knipskastens reichte gerade noch für eine Aufnahme, es war die letzte für lange Zeit. Sie zeigt uns und die Nachbarn, die auf einem Steinhaufen im Freien übernachteten, ich 10 Tage lang, bis ich die Hölle endlich verlassen konnte. Unter Schütteln der Erde und Schüssen der Verbrecher, die aus den Gefängnissen entwichen waren.
Die Nachbarn mussten bleiben. Ich sah sie wieder vier Monate später. Sie hatten ein Zelt erhalten, ich erlebte das nicht mehr. Sie schlafen zum Teil heute noch dort. Die Erde vibriert noch sporadisch, unter normaleren Umständen nicht beängstigend, und Verbrecherschüsse gibt es keine mehr. Zum Glück schießen auch nicht alle Verbrecher, „Verbrecher“ ist relativ. Nur wenige von uns wussten, dass wir einen unter uns hatten, es war der Jüngste, Benjamin, der sich überall nützlich machte, an sich ein lieber Kerl.
Aber in Haiti gehen gar manchen die Nerven durch, besonders jetzt, und das ging auch Benjamin nicht anders. Und bei dem Temperament dieser Leute sind sie sich gewöhnt, Meinungsverschiedenheiten „von Hand“ auszurichten, und Frauen ( wie auch Kinder ) schlagen ist denen kaum auszutreiben. Mit der heutigen Medienmaschinerie weiß jedes Kind, dass das verboten ist. Also ging Marieolène, die neu verheiratete Frau Benjamins, zur Polizei und machte Anzeige, wie von den Medien befohlen. Sie hatte ja recht.
Die Polizei verhaftete Benjamin flugs, und er bekam ein vergittertes Quartier unten im Polizeikommissariat von Pétion-Ville. Die Herren interessierten sich, wovon die Frischverheirateten denn leben. Treuherzig erzählte Marieolène von den kleinen Dealergeschichten ihres Mannes, und zum Erstaunen von Marieolène tauchte die Polizei gleich ein zweites mal auf in ihrem Haus, und wurde fündig.
Als Marieolène gutmeinend ihren Benjamin abholen wollte, musste sie unverrichteter Dinge wieder abziehen. Die Polizisten lachten und meinten, der ( der Benjamin ) gehöre jetzt ihnen. Viel Vergnügen…
Die frischverheiratete Dealerbraut wollte zurück zu ihrer Familie, unten in Délmas, wo sie auch herstammt. Dort sind aber alle umgekommen. Also muss die neue Nachbarin Marieolène versuchen, die Flitterwochen allein zu leben – dank des Umzugs zu ihrem dealenden und schlagenden „Freund“ hat sie ja immerhin überlebt. Und dafür haben sich doch ein paar Hiebe gelohnt.
Haiti ist das Land der Geschichten. Hier hat jede Geschichte ihre Fortsetzung, deshalb ist es so spannend. Wenn wir beide, Benjamin und ich, seine Freilassung noch erleben, werde ich dann die Fortsetzung dieser Geschichte schreiben, ich bin so gespannt darauf wie Sie!
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