Jorge und Gabrielle wohnen seit einer Woche zusammen. Sie mieten eine hübsche und große Wohnung in Guapulo, einem Bezirk von Quito, der gern ein bisschen bohemisch und weltoffen wirken will, in dem sich aber auch jeder Nachbar beim Namen kennt und grüßt. Das Wohnzimmer ist riesig. „Hier in unserem „Casa en el Aire“ ist genug Platz für alle, hier will ich anfangen Veranstaltungen zu organisieren, so wie in dem anderen Haus.“ Das andere Haus ist „La Casa Trans“, eine Mischung aus großer Wohngemeinschaft und NGO für junge Menschen, die sexuell divers orientiert sind, und deshalb immer wieder diskriminiert, ausgeschlossen und sogar angegriffen werden.
Jorge ist 33 Jahre alt und hat eine besondere Kondition: er hat drei Chromosomen, also XXY, womit er sowohl weibliche als auch männliche Körpermerkmale besitzt. Das sein Körper etwas anders war, wurde ihm schon im Kindesalter bewusst. „Mädchen oder Junge?“; diese Frage bekam er oft zu hören, genauso wie er oft direkt als Frau angesprochen wird. So hat Jorge sich schon lange mit seiner eigenen Identität auseinandergesetzt, doch erst vor einem Jahr erhielt er den Schlüssel zur Selbstentdeckung, nämlich als eine Kollegin des Kollektivs Transsexueller in Quito ihm Informationen zu Intersexualität zusteckte. „Als ich die Informationen las, dachte ich: „Wow, das bin ich, und das auch, und das auch!“ Seitdem recherchiert Jorge über diese Kondition und arbeitet darauf hin, das Thema Intersexualität bekannt zu machen, mehr in die Debate über sexuelle Diversität zu integrieren und intersexuellen Menschen zu helfen, sich selbst mit dieser Eigenschaft zu identifizieren. Wichtig ist ihm, dass die Intersexualität nicht nur als medizinisches Syndrom (im Deutschen wird es sogar als Sexualdifferenzierungsstörung bezeichnet) erforscht werden, sondern vor allem von den Menschen, die mit dem Extra-Chromoson leben, als Teil der eigenen Identität akzeptiert wird. Jorge ist der erste Mensch, der sich in Ecuador zur Intersexualität bekennt, obwohl er sich sicher ist, nicht der Einzige zu sein.
Auf politischer Ebene steht Ecuador wesentlich besser da, als man glauben mag. Die neue ecuadorianische Verfassung erkennt, neben Bolivien, das Recht zur eigenen Geschlechtsidentität und sexuellen Orientierung an. Klingt gut, aber wie sieht das in der Praxis aus? Für den Verfassungsausschuss im Jahr 2008, wurde die „Confederación Trans” gegründet, eine Plattform von Organisationen aus sämtlichen Teilen des Landes. Diese funktioniert heute weiterhin, um die Rechte, die aus der letzten Verfassung hervorgehen, auch geltend zu machen.
Und wie sieht die Gesellschaft Ecuadors den Fortschritt auf der Ebene? „Ecuador ist ein Land, das stolz auf seine kulturelle und Biodiversität ist. Auch wenn die sexuelle Diversität noch in vielen Ecken des Landes ein Tabuthema ist, werden durch die neue Rechtslage und den Dialog mit der Regierung viele Mauern gebrochen.“
Das bestätigt Gabrielle. In Kolumbien, seinem Heimatland, ist die Situation völlig anders. Auch wenn es in den letzten fünf Jahren mehrere Versuche der Regierung gab, sich offen zu zeigen, haben diese eher kurzfristigen Charakter gehabt und waren zum Großteil sogar kontraproduktiv für die sozialen Aktivisten, die auf dem Gebiet arbeiten. So wurde die LGBTI-Community (aus dem Englischen: Lesbian, Gay, Bisexual, Trans, Intersexual) zum ersten Mal im Jahr 2005 auf politischer Ebene wahrgenommen, und zwar als eine Nichtregierungsorganisation eine die zuvor dagewesene Aktion initiierte und verschiedene Organisationen der kolumbianischen Jugend und die bewaffneten Kräfte, die sogenannten FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia), an einen Tisch lud. Diese Friedensdialoge wurden später von der Regierung soweit unterstützt, dass die teilnehmenden Organisationen finanzielle Unterstützung bekamen. Leider, zumindest in dem Fall des LGBTI Kolumbiens, auf Kosten der Redefreiheit. Auf einmal gab es Gelder, aber bestimmte Aktionen durften nicht mehr durchgeführt werden, die Organisationen des LGBTI, die vorher gemeinsam arbeiteten, wurden durch die Konkurrenz um die finanzielle Unterstützung vom Staat zersplittet, und somit sind von der einst kleinen, aber starken Bewegung nur Fraktionen übrig geblieben. Hinzu kommt die absolut prekäre Lage der Menschenrechte im Land, das sich seit über fünfzig Jahren in bewaffnetem Konflikt befindet.
Auch wenn es auf internationaler Ebene meist anders dargestellt wird, ist Gabriel davon überzeugt, dass die Sicherheitslage, vor allem für soziale Aktivisten in den letzten Jahren immer schwieriger wird. „Links orientierte Gruppen werden als Terroristen abgestempelt und somit wird ihre Arbeit nicht nur systematisch deslegitimiert, sondern verhindert. In diesem Jahr wurden sechs Aktivisten ermordet und bis jetzt hoffen wir auf Aufklärung dieser Straftaten. Die Regierung rühmt sich weiterhin mit ihren angeblichen Erfolgen, aber für uns Aktivisten wird es immer schwieriger.“ und unter Tränen fügt Gabrielle hinzu „Deswegen bin ich hier, aus diesem Grund bin ich nach Ecuador gezogen, so wie viele meiner Kollegen und Freunde. Ein „Casa en el Aire“ ist für mich in Bogotá undenkbar.”
So wird aus einer traurigen Realität ein Traum, ein Projekt. Jorge fliegt nächste Woche nach Spanien, um Recherche auf einer Konferenz über Intersexualität vorzustellen. Und in welcher Hinsicht können Europa und Lateinamerika zusammenarbeiten? „Ich glaube zunächst muss Europa sich bewusst werden, dass wir hier bereits viel Erfahrung haben, seit Jahren kämpfen und tolle Erfolge erzielt haben, wie zum Beispiel die neuen Rechte, die uns zugesprochen wurden. Wir sind nicht mehr in der Position, von Europa zu lernen, sondern ich glaube, dass wir in vieler Hinsicht gleichgestellt sind. Deswegen hoffe ich, dass wir neue Prozesse schaffen, auf horizontaler Ebene dialogieren und zusammenarbeiten können.“
Wer mehr wissen möchte, kann gern Jorges blog (auf Spanisch) besuchen
die meisten „intersexuellen“ werden als kleinkinder brutal und massiv durch kinderchirurgen genitalverstümmelt – allein in deutschland wird JEDEN TAG ein wehroses kind irgendwo in einer kinderklinik. laut aktuellen studien sind über 90% aller erwachsenen durchschnittlich mehrfach genitalverstümmelt, zwangskastriert usw.
diese „kosmetischen genitaloperationen“ an kindern, ohne medizinische notwendigkeit und ohne jegliche evidenz sind ein „fundamentaler Verstoß gegen die Menschenrechte (Recht auf körperliche Unversehrtheit …)“ (amnesty deutschland 2010). trotzdem schauen politik und justiz nach wie vor weg weg oder beteiligen sich noch als komplizinnen.
kolumbien ist immer noch das einzige land, dass diese verstümmelungen wenigstens teilweise gesetzlich verbietet.
es ist bedenklich und für die grosse mehrheit der „intersexuellen“ und ihren kampf gegen die genitalverstümmelungen schädlich, dass ihre biologische besonderheit einmal mehr dargestellt wird, als handle es sich um eine besondere form der „sexuellen identität“ oder „orientierung“ (zu der mensch sich „bekennen“ kann, analog z.b. zu „Ricky Martin bekennt sich zu seiner Homosexualität“).
offensichtlich gehört jorge zur privilegierten kleinen minderheit unter den zwittern, die nie um die unversehrtheit iherer genitalien fürchten mussten, und auch nie (im falle von xxy „üblich“) gegen seinen willen von der medizyn mit hormonbomben traktiert wurde, und sich deshalb ungebrochen „identitätsfragen“ widmen kann (während traumatisierte genitalverstümmelte, sofern sie überhaupt noch kämpfen können, andere probleme umtreiben: nämlich, wie die verstümmelungen beendet werden und das fundamentale recht auf körperliche unversehrtheit auch für zwitter durchgesetzt werden kann).
und es ist noch bedenklicher, dass jorge (wie auch latina press) über die verstümmelungen und kolumbiens vorreiterrrolle offensichtlich keinen blassen schimmer haben, und dieses schädliches unwissen noch als „experten“ herumposaunen.
obwohl eigentlich jede_r im zusammenhang mit südamerika über dieses thema interessierte durch den (trotz seines irreführenden titels) exzellenten argentinischen film „xxy“ über die eigentliche grundproblematik zumindest eine ahnung haben sollte.
diese vereinnahmung von zwittern als teil des politischen kampfes von lgb(t) um anerkennung von „sexuelle identität“ und als „linke marginalgruppe“ trägt dazu bei, dass die massiven verstümmelungen in den kinderkliniken weiter andauern (weil es vom problem der verstümmelungen ablenkt, und weil ein dringend notwendiges verbot der chirurgischen genitalverstümmelungen an kindern – analog dem geplanten verbot der weiblichen genitalverstümmelung – ohne die c-parteien realpolitisch nicht durchsetzbar ist).
macht bitte eure hausaufgaben, und macht es in zukunft besser, danke.
Vielen Dank für den Kommentar! Als Autorin dieses Artikels möchte ich an dieser STelle klarstellen, dass es sich um einen Artikel basierend auf einem persönlichen Interview mit Jorge und Gabrielle über ihre persönlichen Erfahrungen als Aktivisten der LGBTI-Bewegung in den verschiedenen politischen Kontexten Ecuadors und Kolumbiens handelt.
Somit ist er nicht darauf angelegt, systematische Menschenrechtsverletzungen durch Geschlechtsverstümmelungen anzuklagen, sondern vielmehr über ihre persönlichen Erfahrungen als Aktivisten der LGBTI-Bewegung in den verschiedenen politischen Kontexten Ecuadors und Kolumbiens.
Jorge, als Betroffener, möchte Aufklärungsarbeit leisten, um genau diesen Prozessen entgegenzuwirken, denn er ist der Meinung, dass abgesehen von der Debatte über Geschlechtsmerkmale, durch die Bekennung zum eigenen Körper zur Despatologisierung, und somit zur Emanzipation der Intersexualität von der Medizin, die solche Schandtaten fundiert und fördert, führt.
In der Hinsicht distanzieren sich sowohl Jorge als auch Gabrielle von der „sexuellen Orientierung“ und sprechen von „eigener Geschlechtsidentität“, welche in der Hinsicht auch im LGBTI Platz findet.
Ich hoffe, dass die Erläuterungen zur Aufklärung beigetragen haben.
Viele Grüsse,
Katrin