Stromdiebstahl ist in Haiti normal und wird geduldet

EDH-4

Datum: 04. Januar 2010
Uhrzeit: 10:58 Uhr
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Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Vor 20 Jahren, als ich mit meinem damaligen Freund und zukünftigen Nachbarn Martin einen Weihnachtspaziergang machte, entdeckte ich diesen Hügel am Meer, wo mich ein Einfall traf, wie ein Blitz: Hier baust du ein Haus! Es waren Myriaden von Leuchtkäferchen, die am Himmel funkelten und mich tief beeindruckten. Dass das ein einmaliges Naturschauspiel war, wusste ich noch nicht, aber der Eindruck war bleibend.

Jahre später stand das Haus, es gab auch ein EDH ( Elektrizitätswerk Electricité de Haïti ), das eine lange Reihe von Leitungsmasten pflanzte und eine Kabelschlange zu unserem Hause zog, woher die kam wissen Papa Legba. Damballah und Agowu, oder wie die Voudou-Götter alle heißen.

Doch nicht wie in dem bekannten Lied „Alles Leben strömt aus dir“, strömte und stromte hier gar nichts. Man versprach uns, der Strom werde bald kommen, man versprach uns dies 20 Jahre lang. Hie und da kam er, manchmal für Sekunden, wenn man Glück hatte für eine Stunde, man wusste nie wann und ob. Kühlschränke und andere elektrische Geräte musste man vergessen. Dass die Spannung zwischen 100 und 300 Volt schwanken konnte, musste ich mit mehreren Computern bezahlen. Heute weiß wohl auch ein Computer-Laie, dass man diese Dinger nicht einfach abstellen kann wie ein anderes Elektrogerät, sondern dass die recht lange und umständlich landen müssen wie ein Flugzeug. Sonst kommt der Absturz, vielleicht mit Totalschaden, auch wie beim Flugzeug. Und wenn die oft sekundenweise Stromstöße geben, sekundenweise unterbrechen und das ein paarmal in Sekunden wiederholen, ist ein Computer schrottreif. Auch irreparable Bildschirmschäden bei Laptops und anderes waren die Folgen.

Ziemlich rasch machte ich mich unabhängig von den hiesigen Stromversorgern, verkaufte einige meiner damals noch werthaltigen Börsenpapiere, rettete damit einen Teil meines „Vermögens“ vor der drohenden Vernichtung und erstand eine Satellienschüssel, Solarpanels, eine Serie Autobatterien, eine Inverteranlage und mehr. Inverter nennt man hier ein Gerät, das bei Stromlieferung beliebiger Spannung aus dem Netz den Wechsel- in 12-Volt-Gleichstrom umwandelt und zusammen mit dem Produkt aus lokalen Stromerzeugern wie Solarpanels, Windrädern und ähnlichem in die Batterien einspeist zum Speichern. Von da aus wird der Strom wieder herauf transformiert zu Wechselstrom in der Hausspannung und steht nun zur Verfügung.

Das genügt keineswegs, es gibt Spannungsspitzen, Aussetzer, Ungleichheiten jeder Art und anderes, welches besonders Computer nicht gern haben. Deshalb schaltet man vor jedes heiklere Elektrogerät in diesem Lande ein eigenes UPS ( Uninterruptible Power Supply ), das ein geschütztes Gerät über eine eigene, besonders fein regulierte Batterie speist, über ein Dutzend mögliche Störungen ausgleicht und allenfalls Alarm schlägt. Der UPS-eigene Strom reicht stets aus, um einen Computer noch hinunterzufahren und sanft landen zu lassen, wenn etwas los ist. An solche Dinge muss man sich hier gewöhnen, aber das muss man zuerst lernen. Und das Lehrgeld ist nicht billig.

Also ich habe mich seit Jahren von externem Strom unabhängig gemacht und kann so meiner Internet-Arbeit ungestört nachgehen. Einmal allerdings kamen Diebe und Vandalen und zerstörten in einer Nacht die Satelliten-Empfangsanlage. Das bedurfte weiterer Investitionen: höhere Mauern, Stacheldrähte und ein Hund.

Was EDH in der ganzen Zeit lieferte, war für die Wirtschaft und die erhoffte Entwicklung des Landes zwar eine Katastrophe, für mich aber eine Tragikomödie. Da ich über eine Stromzuleitung, einen Transformator und eine Strom-Uhr verfügte, gehörte ich zu den wenigen Privilegierten, die für die zufälligen Stromstöße zahlen durften. Man fuhr in die Hauptstadt zum Sitz der EDH – für die 20 km Hin- und entsprechende Rückreise damals eine Tagesreise – , und zahlte etwas, sie gaben sich den Anschein die Zahlen im Griff zu haben, man zahlte etwas à Konto, einen Bruchteil von dem was in der Schweiz der Strom gekostet hätte und so wenig man wollte und erhielt eine Quittung über den Betrag. Wenn man ein paar Monate nichts bezahlte, kamen die Monteure und „beschlagnahmten“ den privaten Transformator, ohne Entschädigung, versteht sich.

Alle paar Monate kam ein Ableser, las zum Schein die Strom-Uhr ab und schrieb etwas auf. Er kannte möglicherweise nicht einmal die Zahlen, und böse Zungen behaupteten, im Land funktioniere keine einzige Strom-Uhr. Alle paar Monate brachte ein Ausläufer eine „Stromrechnung“ auf einem scheinbar echten Formular, aber die Zahlen waren Phantasie, und man konnte die „Rechnung“ ebenso gut wegwerfen.

Die „normale“ Stromversorgung funktioniert immer noch per Diebstahl. Drähte überspannen die Täler und Töbel zu Dutzenden und führen von den Freileitungen in die entlegensten Häuser. Allenthalben werden die Leitungen angezapft, für den Strom bezahlt niemand außer mir und ein paar Ausnahmen, und das wird geduldet. Fast niemand hat ja sonst Geld.

In Gressier gibt es fast nur Bauern, Fischer und Arbeitslose, in Montagnes-Noires nur Reiche, „Bourgois“. Hier wohnten auch die Politiker, die Stars, die Geschäftsleute, die großen Gelehrten und früher die Militärs. Deshalb gab es in Gressier, bei den Armen und Stromdieben, 20 Jahre lang nie Strom, in den Villenquartieren oben in Pétion-Ville und Montagnes-Noires immer. Das hat in den letzten Monaten gedreht. In Gressier gibt es bald Strom rund um die Uhr, die morschen Holzmasten wurden durch solche aus Beton ersetzt, neue Freileitungen führen aufs Land hinaus und gegen die Berge. Trotzdem, man stiehlt den Strom immer noch, das wird immer noch geduldet. Womit sollten die Armen auch den Strom bezahlen. Und oben in Montagnes-Noires ist es umgekehrt, die Leute hier haben sich seit langem unabhängig gemacht und sorgen für ihren Strom selbst wie ich, mit Solarpanels oder riesigen Aggregaten. Also brauchen sie keinen Netzstrom, der ist ja nur für die Diebe, die es auch hier gibt – die Reichen haben für sich selbst gesorgt. Also kommt hier der Strom nur noch stoßweise, am Abend und frühmorgens. Man weiß aber wann – früher, in Gressier, rund 20 Jahre lang, gab es keine Regelmäßigkeit. Die unerwarteten Stromstöße konnten zu jeder Tages- oder Nachtzeit einschlagen und aussetzen.

Grund der jahrzehntelangen Strommisère war bestimmt viel Bösartigkeit – das Volk sprach wie bei allem von „politischen Gründen“. Ich hatte zur Putschzeit mal in der Zeitung gelesen, von den fünf Generatoren des staatlichen Dieselkraftwerks, die das Land mit Strom versorgen sollten, liefen halbwegs nur noch drei, weil seit Duvaliers Zeiten keine Pflege, kein Service, keine Reparaturen mehr stattgefunden hätten. Diese Version war für mich die glaubhafteste. Auch die Unterversorgung mit Dieselöl musste als Begründung herhalten, jahrelang litt das Land unter Embargo und wurde überhaupt nicht beliefert, dann kamen ölige Geschenke aus Venezuela, die konnten nicht gelandet werden mangels Tankkapazitäten. Und die wenigen vorhandenen Tanks waren verrostet.

Seit die UNO und die Welt dem Armenhaus Haiti helfen, ist alles auf dem Weg zur Besserung. Wie Bild zeigt, erinnert eine kreolische Tafel daran, dass dies ein Gemeinschaftswerk südamerikanischer Länder sei, vor allem Haitis, Kubas und Venezuelas. Als besonderer Gönner wird der venezolanische Präsident Hugo Chavez erwähnt. Das muss den westlichen Industriemächten im Hals aufstoßen. Sie haben es eben versäumt, dem Land mit der größten Armut der amerikanischen Welt rechtzeitig zu helfen – die helfen nur bedeutenden, potentiellen Märkten.

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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