Kuba: Vuela, mi amor, vuela!► Seite 2

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Datum: 05. Juni 2011
Uhrzeit: 04:43 Uhr
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Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Da nun seit Jahren weder in El Morro noch in La Cabana Gefängnisse betrieben werden, wurden die Leute entweder entlassen, oder in andere Gefängnisse verbracht. Reinaldo Arenas schrieb, der einzige Fluchtweg aus El Morro war der Selbstmord. Besonders jugendliche Gefangene, die von den Kalfaktoren in Serie vergewaltigt und wie Sklaven behandelt wurden, nutzten jede sich bietende Gelegenheit, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Einige von ihnen sprangen von der Terrasse fünfzig Meter und mehr in die Tiefe, um auf den Ufersteinen zu zerschmettern. Arenas schrieb von hundert Meter, welche die bedauernswerten Opfer in die Tiefe sprangen; meinem Augenmaß zufolge war die Einschätzung der Höhe aber eine literarische Freiheit, die sich Arenas nahm.

Man kann oben auf dem grün bewachsenen Felsen über die Schnellstraße gehen, von oben sieht man die blau gestrichenen Bögen, welche die Einfahrt in den Tunnel markieren. Man gelangt so hinüber zu La Cabana und von dort aus kann man über eine sanft abfallende, pittoreske Landschaft hinunter gehen bis zu einer mit Felssteinen bedeckten, verwilderten Wiese, die direkt am Ufer liegt.

Wir waren an diesem Tag mit unserem kubanischen Freund Alessandro unterwegs, der den Spitznamen Chino (Chinese) hat. Unser Plan war, nach dem Besuch von La Cabana mit dem öffentlichen Bus zurück nach Habana Vieja zu fahren und dort beim Parque Central ein paar Mojitos zu trinken – nicht im Floridita, dort haben sie Fantasiepreise. Aber es kam anders. Auf der Wiese links neben den Parkbuchten an der Schnellstraße stand ein alter Mann, gegerbt von hundert Jahren Sonne und tropischem Wind, hielt ein Modellflugzeug in der Hand und untersuchte den winzigen Motor. Ich sagte zu Chino, dass ich den Mann gerne kennenlernen würde.

In seiner Haltung, wie er sich der Reparatur oder Pflege des Motors widmete, war eine ungewöhnlich tief verankerte Würde, eine fast tragische Größe, die ich mir aber möglicherweise nur einbildete, weil ich von den Eindrücken in El Morror und oben, bei La Cabana, noch tief bewegt war. Chino übernahm es, meinen Freund und mich mit dem Mann bekannt zu machen. Wir gaben uns die Hände, setzten uns auf Steinblöcke und sahen ihm eine Weile zu, wie er den winzigen Motor des Modellflugzeugs kontrollierte.

Neben ihm lag eine Fernsteuerung. Er erzählte uns, dass er seit dem Tod seiner Frau fast an jedem Wochenende hier her käme, um sein kleines Flugzeug fliegen zu lassen. Unter der Woche würde er sich damit beschäftigen, Lackschäden auszubessern, das Fahrwerk zu richten, oder er wanderte durch die Stadt, um nach brauchbarem Material zu suchen – falls es einmal zu einem größeren Schaden käme. Er erklärte uns stolz, dass er das Flugzeug, also den Rumpf des Flugzeugs, auf einem überwucherten Feld in der Nähe von Cojimar gefunden hatte, vor über sieben Jahren. Seitdem arbeitete er daran, um es zum Fliegen zu bringen und, seitdem es flog, so oft wie möglich in den Himmel zu schicken. Er sagte: “Um uns ist das Meer, das verdammte Meer. Ich liebe es, weil es so unermesslich ist und ich hasse es, weil es uns daran hindert, einfach fortzugehen.”

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Peter Nathschläger, geb. 1965 in Wien, entdeckte früh seine Vorliebe für Reisen & Literatur. Parallel zu seinen Romanen, Kurzgeschichten und Gedichten widmet er sich nun verstärkt Reiseberichten mit Schwerpunkt Kuba, ganz im Sinne einer literarischen Spurensuche.

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