Ich machte mich auf die hoffnungslose Suche nach dem eingeritzten Lebenszeichen von Gerardo. Den Instinkten zu folgen, kann sehr oft frustrierend, ermüdend und auslaugend sein, manchmal aber, wenn man sich nicht all zu sehr auf das Vorhaben konzentriert, kann es auch zum Erfolg führen: Ich fand ich auf einem der Steinblöcke, die das Ufer am Ende des Malecon befestigten unter den dutzenden eingravierten Namen auch folgende geritzte, und fast völlig vom Meerwasser ausgewaschene Anmerkung:
Gerardo y Felipe.
Todavía estamos aquí
16. septiembre 1964
Bei dem Wort “Todavia” bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich es richtig gelesen habe; ich schlußfolgere aber, dass es dieses Wort sein muss, weil es der Anmerkung die seltsame Bedeutung von “noch immer” gibt: Wir sind noch immer hier.
Ich schoß mehrere Fotos von der Inschrift, leider ist keines davon brauchbar geworden, die Inschrift war auf den Bildern nicht leserlich. Unten ein Foto, ungefähr von der Stelle, wo sich die Inschrift befindet. Und zwar hinter mir, als Fotograf, am Ende der Mauer. Von da aus kann man über einen Treppelweg oberhalb der Steinblöcke am Ufer weiter gehen.
Als ich am späten Nachmittag von meinem Fahrer abgeholt wurde, fragte ich ihn, wo der Friedhof von Cojimar sei, und er brachte mich hin. Es ist ein verwilderter, grün überwucherter Friedhof und er liegt in den Hügeln, die Cojimar von der Schnellstraße trennen. Ich bat den Fahrer, mir noch etwa zwanzig Minuten Zeit zu geben. Ich ging auf der gestampften roten Erde zum Tor, betrat den schattigen Friedhof und wanderte in den eingesunkenen Reihen herum ohne zu wissen, was ich eigentlich wirklich suchte. Vielleicht wollte ich nur eine emotionelle Verbindung mit der Vergangenheit herstellen. Oder vielleicht suchte ich das Grab von Gerardo.
Die emotionelle Bindung konnte ich herstellen. Ohne all zu viele Fakten aus dieser Zeit zu kennen, fühlte ich eine sonderbare Nähe zu den Sechzigerjahren, konnte die Euphorie, aber auch die Bedenken und Ängste der Menschen nachvollziehen. Und in der Zeit all dieser maßgeblichen Änderungen, dass Leben eines Halbwüchsigen, das vermutlich bei einer leichtsinnigen Spielerei ausgelöscht wurde.
Ich habe das Grab nicht gefunden, bin aber davon überzeugt, dass ich es hätte finden können, wenn ich mir mehr Zeit genommen, und genauer gesucht hätte.
Cojimar entließ mich nachdenklich, ein wenig traurig, so, als ob ich einen Ort verlassen müsste, an dem ich sehr lange sehr intensiv gelebt hatte – dabei war ich alles in allem gerade einmal knapp drei Stunden hier gewesen. Als wir aus den Hügeln kamen und über den Zubringer hinunter rollten auf die Schnellstraße Richtung Havanna, war mir so, als ob wir aus einem verzauberten Land zurückkehren würden in die Wirklichkeit.
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