Trauerbilder: Haiti-Bilderbogen

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Datum: 13. April 2010
Uhrzeit: 05:39 Uhr
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Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Ich habe es schon mal geschrieben: die Leser meiner Stories sind großartig, wirklich. Sie reagieren immer wieder auf vielerlei Weise, schriftliche Ergänzungen, Angebote von Wohnmöglichkeiten in beiden Ländern, Einladungen. Gestern war ich von Frank Elstner eingeladen, als Gast in seiner Sendung „Menschen der Woche“, im Deutschen Fernsehen.

Für die Sendung habe ich auf Wunsch des SWR-Studios einige Bilder zusammengestellt, die ich hier nochmals zeige. Zuerst eine Erinnerung an mein wunderschönes Haus bei Gressier, das nie mehr entstehen wird. Es ist eingebettet in einen Urwald aus ehemaligen Topfpflanzen, die mich schon in meinem Schweizer Leben begleitet hatten. Im hiesigen Klima sind sie zum Teil um das Hundertfache gewachsen, tropisches Klima bewirkt Wunder! Darin versteckt sind die vier Stockwerke ( das vierte ganz unten für meine Leute blieb erhalten ) sowie ein riesiges Schwimmbad mit Wasserfällen. Die Gesamtbreite des Hauses betrug 60 Meter. Die Zimmer waren mit Rattanmöbeln bestückt, das Ganze ein Paradies, MEIN Paradies!

Ich selber wohnte zuoberst im „Türmli“, wo die Aussicht unbeschreiblich war. Hier stand auch meine Computer- und Internet-Ausrüstung, die sensiblen Glasfaserkabel machten nur einen kurzen Weg zu den Satellitenantennen, die auf dem Dach versteckt waren. Gut versteckt, denn Glasfaserkabel, aber auch Solarpanels sind attraktiv für Diebe und hatten auch schon solche angelockt. Das war auch der Grund, warum mein Deutscher Schäferhund Ata draußen auf dem Dach wohnen durfte, natürlich verfügte er auch über gutes Obdach hier. Und er fühlte sich wohl. Nachts ließ ich Tür und Tor offen, Ata fand den Weg und besuchte mich oft im Türmli und kontrollierte mit ihrer feuchten Nase subtil, ob ich noch atme und alles in Ordnung sei.

Meine Frau hat die Schweiz ihrer Heimat immer schon vorgezogen, ich habe sie seinerzeit ja auch dort kennen gelernt. So fuhren wir anfangs nur ferienhalber in ihre Heimat, wo ich aber bald hängen blieb, sodass wir uns während vieler Jahre nur kurz und selten sehen. Ich ziehe Haiti wegen des warmen Klimas und der ebenso warmherzigen Menschen vor und kehre nicht mehr ohne Not nach Europa zurück, so wie jetzt. Weiteres hört man dazu in der gestrigen Fernsehsendung, die man über den untenstehenden Link nochmals anschauen kann. Fast 20 Jahre lang habe ich das herrliche Leben und die unterbaute, paradiesische Aussicht genießen können, am 12.Januar war alles jäh zu Ende.

Wegen eines Kupplungsdefekts war ich am Vortag in die Stadt gefahren und richtete mich bei Melissa ein, meiner Pflegerin und Mitarbeitern. Sie wohnt in Montagnes Noires, fast 1000 m hoch über der Hauptstadt, und von ihrem Haus aus genießt man eine wundervolle Tiefsicht auf das Meer und die Prinzenstadt.

Während es in der Regel dunstig ist, herrschte an diesem Abend eine selten klare Sicht und eine so eigenartige Stimmung, dass ich mich zu einer Aufnahme entschloss. Kaum abgedrückt, ging ich ins Schlafzimmer, das im 2.Stock lag, und es begann zu rumoren und zu rütteln, die Mauern ebbten um ganze Meter hin und her, was oben hing stürzte herunter und was Glas war zerklirrte, Möbel stürzten um und umher, nach Schrecksekunden nahm ich den Laptop unter den Arm und rannte hinaus. Es schüttelte und wackelte, und unter Donnern stürzte das 3.Stockwerk ein. Draußen sammelten wir uns und schauten, ob niemand fehle, ein Blick nach der Stadt hinunter zeigte ein braunes Nebelmeer und eine beige Schmutzglocke über Pétion-Ville. Wir ahnten nur, was da unten geschehen war. Das dauerte 35 Sekunden, eine Ewigkeit.

Hinter dem Haus richteten wir uns ein, so gut es ging, scharrten in den Steinen wie die Hühner einen Hügel zurecht, legten uns auf die harten Steine, rückten zusammen und zitterten. Es wurde dunkel, dunkel auch rundum und weiter weg, auch das Stromnetz und alles andere war zusammengebrochen.

Dass auch mein schönes Haus in Gressier zusammengebrochen und meine liebe Ata eine halbe Minute vor dem Beben vom Dach und in panischer Angst davongerannt war, hörten wir erst Tage später. NOCH später konnte ich das auch auf dem Satellitenbild feststellen, denn hie und da wagte ich mich für eine Minute ins Haus, und mit Batterien und einem intakten Antennen-Modem gelang mir dazwischen eine kurze Internet-Verbindung. Auch das eine oder andere Handy begann wieder zu arbeiten.

Am zweiten Tag brachte uns eine UN-Organisation Lebensmittel und Wasser, und wir bemerkten, dass Majorie, die Schwester von Melissa, unten beim Fluss unter eine Mauer geraten und schwer verletzt war. Sie konnte erst nach Tagen herauf transportiert werden. In der dritten Nacht bekam ich ein Metallbett, dessen Aufklappen leider Melissa einen Finger kostete. Ein Arzt oder gar Spital war nicht erreichbar. Am Handy hörte Mystal, Melissas Mann, dass unten in Délmas sechs Familienmitglieder gestorben waren.

An einem späteren Tag versuchten Mystal und Iberman, ein Bruder von Melissa, mit einem Motorrad zu unserem Haus in Gressier vorzustoßen, an offenen Spalten und Bergen von Leichen vorbei. Sie konnten nur noch bestätigen, was wir befürchtet hatten: den Totalverlust von allem Hab und Gut. Teile meines Rattanbettes fand man 40 m tiefer und 40 m draußen in der Küstenebene, ich wäre mit explodiert, wenn ich zu der Zeit nicht bei meiner Mitarbeiterin Melissa in den Bergen gewesen wäre… Stellen Sie sich das vor!

Sie erinnern sich vielleicht an die Zuschrift meines Freundes Clausi aus Borneo, er schrieb da: „Lieber Otti, der liebe Gott gab Dir ein schönes Leben, aber nahm Dir jetzt das Haus … er wird seine „Gründe“ haben?!“ Schön, wieder schmunzeln zu können – man darf ja nicht immer weinen. Aber ich glaube doch, ich habe einen besonderen Gott: ich überlebte Höhlenunfälle, Flugzeugabstürze und nun dies, und blieb immer und jedesmal – unverletzt!

Schießereien der 6100 ausgebrochenen Mörder und Kidnapper kamen jede Nacht näher und nahmen zu, und neue Beben rüttelten mehrmals jeden Tag. Auch unsere Ängste nahmen zu, die Schrecken waren unvorstellbar. Nach 8 Tagen gelang uns nochmals Verbindung zur Botschaft, nach 10 Tagen wurden wir ins Nachbarland Dominikanische Republik evakuiert, es war Zeit!

Das Erdbeben – das drei Monate später immer noch nicht zur Ruhe gekommen ist – entstand durch die Reibung der Kontinentalplatten, die sich tief unter der Erde befinden. Dabei reibt sich die Nordamerikanischen Platte an der Karibischen, gegen die sie sich verschiebt. Im Erdinnern bauen sich extreme Spannungen auf. Wenn die Erdoberfläche diese Spannungen nicht mehr aushält, kommt es zur Entladung und zum Bruch.

Es bestehen zwei Brüche in Haiti, von denen je einer jede Halbinsel durchzieht. Hier werden die einmal auseinanderbrechen, und es werden neue Inseln und Meere entstehen. Ein Blick vom Satelliten her zeigt das Tal, das im Epizentrum des Bebens, auf der südlichen Halbinsel Tiburon, entstanden ist. Schnurgerade durchschneidet es die Landschaft über Dutzende von Kilometern. Ich hatte das Pech, dass mein Haus an der Küste hier ganz in der Nähe lag.

Menschen der Woche

Photo: ©copyright by Henauer/latina press

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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