Haiti: Der Dieb und der Engel

Dieb&Engel

Datum: 30. August 2011
Uhrzeit: 03:17 Uhr
Leserecho: 0 Kommentare
Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Ich möchte ja am liebsten stets lustige Aufsteller bringen in meinen Kolumnen, denn die sind eigentlich zum Schmunzeln da. Aber es scheint fast unmöglich, in der wirklichen Welt etwas zum Schmunzeln zu finden, jedenfalls immer schwieriger.

Heute kommt ein Mail von der Botschaft einer ausländischen Macht, zum ungefähren Übersetzen des Inhalts reicht mein Englisch gerade noch aus.

„Politische und private Quellen melden übereinstimmend ein besorgniserregendes Abschlittern der Sicherheit, besonders in den Quartieren von Vivy Michel, Thomassin 32, Stadtzentrum Port au Prince und Portail Leogane, dem grossen Busbahnhof gegen Süden und Westen (vom Place St-Pierre, wo die in Umzug befindliche Schweizer Botschaft residiert, stand nichts – wohl weil ich es doch nicht geglaubt hätte). Es wird geraten, diese Quartiere zu meiden, da in den nächsten Wochen mit verstärkter Gangtätigkeit, Entführungen und anderen Verbrechen zu rechnen sei.

Als Gründe werden die folgenden aufgeführt:

– Unfähigkeit von Präsident Martelly, eine Regierung zu bilden
– Der Schulbeginn kann nicht wie erwartet Anfang September durchgeführt werden; er wurde auf Oktober verschoben
– Das positive Versprechen des Präsidenten, die Schulen gratis zu öffnen, kann nicht eingehalten werden
– Fortschritte im Wiederaufbau fehlen noch immer (oder beziehen sich auf volksfremde Projekte, Hg)
– Jobs lassen auf sich warten (oder es gibt nur Hightecjobs für ausgebildete Ausländer, Hg)
– andauernde schlechtere Wirtschaft
– Demotivation im Polizeiwesen (Verknappung von Uniformen und Ausrüstung, Führungsmängel, Besoldungsrückstände)
– Wiederauferstehung gewalttätiger Oppositionsgruppen, ermutigt durch den früheren Präsidenten Aristide
– Wiederenstieg des Gang(Banden-)wesens

In den vergangenen 2 Monaten haben in der Hauptstadt bewaffnete Verbrechen und Entführungen signifikant zugenommen. – Bleiben Sie daher wie gewohnt vorsichtig,“ so schloss das Mail. Kaum gelesen, wurde ich selber ein Opfer der Umstände. Wieder einmal. Eigentlich wollte ich für mein vor ein paar Tagen begonnenes Portal „News4Press“ (Link unten) ein Sgrafitto aufnehmen, das ich gleich neben der Schweizer Botschaft am Place St-Pierre entdeckt hatte. Der Artikel war schon geschrieben, es fehlte nur noch das Bild. Er zeigte, wie sich Analphabeten ausdrücken, ihre Wandzeitungen und ihre Schriften haben. Ein Strolch beobachtete mich bei der Aufnahme und entriss mir blitzschnell die Kamera, obschon die am Handgelenk angebunden war, aber der Kerl war stärker als die doppelte Anbindung, sie zerriss. Die anschliessende Stunde auf der Polizeiwache mit Rapport und so brachte auch nichts mehr. Der 2. Fotoapparat war weg. Es war der, den mir die Sekundarschüler von Suhr nach einem Vortrag geschenkt hatten und der mich immer an dieses Ereignis und die aufmerksamen Zuhörer erinnerte; der erste Fotoapparat war auf der Flucht in Paris auf genau dieselbe Art abhanden gekommen.

In den nächsten Tagen werde ich das Problem haben zu entdecken, wie ich baldigst wieder zu einem solchen Ding komme, dem dritten hier in Haïti. Die Polizei riet mir dazu zu einem Ausflug nach Santo Domingo, aber der würde für zwei Personen ja mehr kosten als der Fotoapparat … Auch habe ich mich in der folgenden, schlaflosen Nacht mit dem Gedanken befasst, das Foto für den bereits fertig gestellten Artikel mit Melissas Telefon aufzunehmen, das soll ja heute sogar möclich sein und recht brauchbare Ergebnisse liefern.

Du siehst, vielleicht schon wieder etwas Positives abgewonnen, schon wieder etwas gelernt. Aber das Ergebnis oist noch ungewiss, und zudem reicht das zum Schmunzeln noch nicht. Und weiter oben habe ich noch geschrieben, meine Kolumnen seien eigentlich zum Schmunzeln da. Aber es scheine fast unmöglich, in der wirklichen Welt etwas zum Schmunzeln zu finden, jedenfalls werde es immer schwieriger.

Und schon wieder hat mir ein Engel geholfen, die retten mir nicht nur – wie immer wieder – das Leben, die bringen mir neuerdings sogar Geschichten und englisch-gute Ideen. Denn eben ist mir zum heutigen Tag noch ein Erlebnis eingefallen, das bestimmt jeden Leser zum Schmunzeln bringt.

Ich habe heute wieder mal Prinzipien verletzt – das ist natürlich sehr schlecht – vor allem mein Pronzip, in Haïti nie allein zu gehen. Das hielt ich felsenfest ein seit 20 Jahren – mit Ausnahme von heute. Ich wollte für meinen News4Press-Artikel (Link unten) über Bilderschriften eigentlich ein Herz knipsen, das ich auf einer Mauer neben der Botschaft entdeckt hatte, und eigentlich führte mein einstündiger Spaziergang durch Freundesland – Quartiere, deren Bewohner mich kannten und schätzten. Mit einem Überfall rechnete NIEMAND, keineswegs. Man kommt zu so vielen Augen- und Wortkontakten, freundliche Grüsse und Gegengrüsse, kurze Wortwechsel und auch hie und da ein gutgemeinter Witz – so könnte man sogar die Sprache lernen, auch schmunzelnd, ohne Schulmeisterei.

Unten durch Lakou Mango kreuzte ich eine weisshaarige, uralte Frau, die ich im Vorbeigang grüsste wie alle: „Bonswa Madan“ (kréol=Guten Anbend, Madame). Die Greise antwortete „Bonswa Mesye Hegnauer“ – mich traf der Schreck. „Kòman ou fe konn non mwen,epi ou pwononse li byen!“ (kréol=Wie kennen Sie meinen Namen, und sprechen ihn erst noch korrekt aus!?). Die Dame lächelte nur und ich stapfte weiter, abwärts gegen Pétion-Ville.

Als ich den Vorfall am Abend Melissa erzählte, sagte sie, das könne nur die einstige „Botschafterin“ sein, die gleich „alt“ ist wie ich. Aber mit Marianne bin ich Duzis, und zudem kenne ich die mit Sicherheit, auch ohne Brille! Melissa lachte und erklärte voll Inbrunst: Dann musste es ein Engel sein. Also doch noch ein Schluss zum Schmunzeln?

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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