„Ich habe dort die Magie wieder gefunden, die Teil unserer lateinamerikanischen Realität ist, die Verbundenheit mit der anderen Welt, ‚la otra edad‘, mit unserer Vergangenheit, mit unseren Wurzeln. Als kleiner Junge hatte ich einen Archäologen zum Freund, der nahm mich manchmal mit nach Tepetate, wo er Ausgrabungen leitete. Ich erinnere mich, dass es dort einen Monolithen gab, der mich in seinen Bann zog, und während ich ihn betrachtete, hatte ich das Gefühl, in die andere Welt hinüber zu wechseln, ‚a la otra edad‘. Etwas Ähnliches ist mir noch einmal in Mexiko passiert, als ich Cuernavaca besuchte.“
Trotzdem zog es Carlos noch nicht in die Heimat zurück, sondern erst mal nach Nevada, wo er eine Weile bei seiner Schwester lebte. Wie es ihm dort erging, fasst er gern in einer Episode zusammen: „Ich musste zum Rauchen immer auf den Balkon. Mein Nachbar auch. Also standen wir da, jeder auf seinem Balkon mit seiner Zigarette, sagten ‚Hi‘ und nach drei Monaten immerhin schon ‚Hi, how are you?’“ Carlos hielt es nur ein halbes Jahr aus, dann entschied er sich endgültig für Nicaragua, seine Heimatstadt Granada und die Magie der lateinamerikanischen Realität. Seine Familie hat er seitdem nicht wieder gesehen.
Carlos González ist durch und durch Granadino. „Wir sind ‚muy especial‘ „, sagt er und bekennt sich selbst ironisch zu Stärken und Schwächen eines Menschenschlages, den eine bewegte Geschichte geformt hat. Auf den Grabsteinen des riesigen Friedhofs stehen bedeutende Namen, von Präsidenten, Intellektuellen und ‚großen‘ Familien, die die Geschicke der Stadt und des Landes mit bestimmt haben. „Ja, wir sind ein bisschen arrogant und vor allem sehr konservativ“, gibt Carlos Augen zwinkernd zu, „und so wollen wir eigentlich bleiben, aber genau das bringt auch eine Menge Kuriositäten hervor, die gut aus García Marquéz‘ Macondo stammen könnten.“
Leider, bedauert Carlos, hat die Stadt seit den 80ern viel von ihrer Bedeutung – sowohl der ökonomischen als auch der kulturellen – eingebüßt . Revolution und Bürgerkrieg haben zwar keine Verwüstungen angerichtet, aber verlassene Häuser und sterbende Fabriken hinterlassen. Ausländische Investitionen, vor allem in den Tourismus, sowie zahlreiche soziale und kulturelle Projekte haben Granada aus dem Halbschlaf geholt, doch die Vorzüge der alten Dame würden längst nicht genügend genutzt oder zum Teil sogar – zu Gunsten kurzlebiger Geschäfte – einfach ignoriert. Carlos González, der sich seit seiner Rückkehr für die Erhaltung der kolonialen Architektur engagiert, weiß das nur zu gut… und vieles mehr.
Er ist eine faszinierende Persönlichkeit. Es kostet Mühe, ihn auf eine Verabredung fest zu nageln, aber wenn man es geschafft hat, sollte man weder auf die Uhr schauen noch in den Notizblock kritzeln, sondern sich einfach von ihm entführen lassen – in diese andere Welt, die er lateinamerikanische Realität nennt.
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