17.Januar 2010, die fünfte Nacht im Himmelsnest. Die ersten Totendüfte steigen nachts aus der Stadt, oder aus Pétion-Ville herauf. Da braucht man keine Hundenase. Die Kinder sind ruhiger geworden, der unbekannte Hund spürt auch dass etwas in der Luft liegt und nähert sich mehr und mehr der biwakierenden Gruppe. Er nähert sich bis auf Tuchfühlung meiner Lagerstätte. Wir kennen uns nicht, sprechen nicht miteinander, und doch scheint etwas es wie Kommunikation zu geben. Und in der Nacht als sich im Dunkeln verdächtige Geräusche eines Schleichers nähern, auffälliger Weise ohne Taschenlampe oder sonstiges Licht, beginnt der unbekannte Hundegast mit aggressiver Stimme gereizt zu bellen, der hat sich tatsächlich zum Beschützer entwickelt, ohne dass wir je ein Wort zu ihm gesprochen haben oder seinen Namen kennen. Es hat ihm auch niemand je zu fressen gegeben, er bettelt auch nicht darum. Direkt ein idealer Hund.
Dann hören wir diverse Schüsse, schon in nächster Nähe. Seit zwei Nächten gibt es die nächtlichen Schießereien von Dieben, oder Möchtegern- Dieben, aber bisher weit entfernt. Ich glaube, ich werde die nächste Nacht im Hausinnern verbringen, hinter verschlossener Tür, aber sprungbereit nahe dem Ausgang. Ich ziehe die Bebenbedrohung der Mörderbedrohung doch vor. Am Morgen gelingt mir ein Einstieg ins Internet. Hunderte von Emails warten darauf, gelesen zu werden, aber dazukommt es noch nicht. Einzig die Mails der Schweizer Botschaft lese ich sehr hastig, uns schreibe die Antwort, dass ich wohlauf bin und morgen gern ein Rendezvous hätte, ich habe um die Adresse gebeten, denn auch die Botschaft sei zerstört. Eingeschränkte Konnektivität, Server unbekannt, keine Verbindung mit diesem Server möglich usf. lauten die lapidaren Antworten. Und meine Antwort geht nicht ab. Dann kommt der Browser überhaupt nicht mehr, und jetzt ist Mittag, und nach drei Stunden Versuch fahre ich den Computer hinunter, um den (wohl letzten) Strom einer Autobatterie zu sparen.
Auch von meinem Haus in Gressier weiß ich noch nichts. Meine Tochter meldet aus Paris, nach Zeugentelefonaten sei es eingestürzt, ich habe keine Möglichkeit hinzukommen. Meine Wächter haben versagt, 25 km könnten doch noch zu Fuß geleistet werden. So ist heute in aller Frühe Mystal losgezogen. Er will versuchen, zu Fuß nach Gressier zu gelangen, um zu sehen was Wahrheit ist. – Unterdessen hört man am Radio, die N2, die nach Gressier und weiter führt, sei von Fußgängern verstopft, die wegen panischer Angst vor einem Tsunami das Stadtgebiet verlassen.
Spätabends kommen die beiden zurück, immer noch maskiert und schweißtriefend. Das Hauptproblem seien nicht die Tsunami-Flüchtlinge gewesen, sondern die Spalten und Risse, die Straße verdiene diesen Namen nicht mehr. Und an der Route de Rail ( Straße der einstigen Bahngeleise ) lägen die Leichen meterhoch und seien nicht weggeräumt. Von meinem schönen Haus bestehe nichts mehr, die Teile meines Rattanbetts aus meinem Türmli seien 40 m weit weggeflogen und ebensoviele Meter tiefer im Sumpf der Küstenebene gelegen. Dort müsste man entsprechend auch nach Elementen meiner Computertechnik suchen, es sei nichts mehr zu retten, der nächste Schritt müsse ein Container sein. Unvorstellbar was mit mir geschehen wäre, wenn ich in dem Haus geblieben wäre.
Auch die Häuser der Nachbarn lägen flach, es hätte Tote und Verletzte gegeben. Man erklärte mir später, warum mich die Wucht der Erschütterung wie eine Explosion getroffen hatte: das Epizentrum des fürchterlichen Bebens lag direkt vor unserem Haus, da war der stärkste Beton unnütz. Was mich am meisten betroffen machte, das war das Schicksal meiner Tiere. Während man von meinem Kätzchen Minouche keine Spur mehr fand, erklärten Nachbarn dass Ata das Beben wohl im letzten Moment vorausgespürt hätte und aus der Dachterrasse abgesprungen sei. In panischer Angst sei er gegen die Berge davongerannt und hätte sich nicht mehr einholen lassen. Schwierig, den erstaunten Einheimischen meine Trauer zu erklären, sie meinten, der Tod so vieler Menschen sei doch viel schlimmer als der einer Hündin. Sie verstanden eben nicht, dass Ata für mich nicht eine Hündin, sondern eine Schwester war.
Auch meine verletzte Nachbarin Eveline, – sie wurde inzwischen nach Miami evakuiert, hatte einen Deutschen Schäferhund. Der sei dann beim Auffressen menschlicher Kadaver in der Küstenebene beobachtet worden. Ich hoffe nur, dass sich meine Ata nicht auch zu einer Kannibalin entwickelt.
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