Ich denke an Flucht. An ein Verlassen dieses Nests ist kaum zu denken. Doch bald muss sich das machen lassen. Ich muss irgendwie Kontakt schaffen zur Schweizer Botschaft, die sei angeschlagen und disloziert, keine Verbindungen funktionieren, ich höre dass die Grenzen geschlossen seien und die normalen Busse nicht verkehren. Auch die Banken sind geschlossen, und ohne Geld lässt sich gar nichts machen.
Schließlich öffnen erste Geld-Transfer-Institute, aber dort sollen sich „mehrtägige“ Warteschlangen bilden. Zu Fuß machten wir uns vorsichtig auf, die Botschaftsadresse zu suchen. Im Gebäude klafften breite Risse, ein Wächter ließ Personen nur einzeln eintreten, wegen Einsturzgefahr. Die Botschaft war eigentlich geschlossen, aber das Personal arbeitete unter Hochdruck, Gott sei Dank, und wohl unter unvorstellbaren Belastungen. Und alle paar Minuten wieder Erdstöße.
Der Botschafter war außerordentlich hilfsbereit und platzierte uns in einem Flüchtlingsbus, der einige Tage später von hier nach Santo Domingo fuhr. Die Busse fuhren über Nacht und waren schon alle besetzt, so mussten wir wohl oder übel noch ein paar weitere Nächte im Freibiwak unter Dieben und Schiesslärm in Kauf nehmen. Aber man sah jetzt ein Ende.
Nur die Bank, die blieb dicht. Melissa hatte jeweils schon in der Nacht einen Späher und Platzhalter hingeschickt, um uns bei Öffnung zu alarmieren. Einmal telefonierte uns der gegen 9 Uhr, sofort zu kommen, die Bank werde geöffnet. Melissa schwang sich auf den Sattel eines Motorrads und fuhr hin, Fehlalarm. Gegen 13 Uhr stand sie wieder da im Freibiwak Montagnes Noires. Die Öffnung sei nicht möglich, da Computerleitungen unterbrochen seien. So ging es bis zum 10.Freiluft-Biwak. Wir stiegen in den Flüchtlings-Car, und über Nacht wurden wir nach Santo Domingo geführt, ohne Geld, denn die Banken blieben immer noch geschlossen. Aber wenigstens konnten wir jetzt baden und ruhig schlafen, ohne Schüsse, und in sauberen Hotelbetten. Das weitere würde sich schon ergeben, im Lauf der nächsten paar Tage.
Die Erde schien immer noch zu beben, und bei jedem größeren Geräusch von draußen zuckte ich zusammen und wollte weglaufen. Doch ein Erlebnis muss ich noch losbringen, es war zu eindrücklich. Im letzten Moment vor Abfahrt, es war bereits dunkel, kamen zwei Damen der Humanitären Hilfe mit Kleinkindern im Arm. Die schauten uns mit großen wundrigen Augen verängstigt an; sie seien im letzten Moment aus den Schuttmassen eines Hauses gerettet worden. Am 10. Tag nach dem Beben. Und am nächsten Tag, dem 11., hörten wir im Fernsehen, die Suche nach Überlebenden in Haïti sei eingestellt worden, da nicht mehr genug Hoffnung bestehe.