„Normale“ Menschen brauchen kein Regelwerk. Sie haben ihre Regeln, ungeschrieben umso besser. Zum Beispiel Schutz des Schwächeren. Aber weil es nur wenig solche Menschen gibt, haben schon die Religionen Regelwerke geschaffen, das sind meist die ältesten und auch die besten. Zum Beispiel die Zehn Gebote.
Vielleicht erinnerst du dich an eine Kolumne, in der ich geschildert habe, wie mein indischer Freund Ulli tagelang bei den schlimmsten Banden in Sitesoley zugast war. Sitesoley (Cité Soleil) war das grösste und schlimmste Elendsquartier der Erde, ein Slum mit ein bis zwei Millionen Einwohnern. Niemand wagte sich hier hinein, die haben Jeden getötet. Selbst schwerbewaffnete Truppen wurden umgebracht, Blauhelme, Polizisten in grosser Überzahl. Ulli ging hier ein und aus, wurde von den Banditen noch verpflegt und mit Sackgeld versorgt, die liessen keinen zu Fuss gehen weil er das Taptap (Sammeltaxi) nicht bezahlen konnte. Er berichtete auch, fast alle sprächen perfekt englisch und verfügten über US-Erfahrung oder sogar Uni-Studium. Das „Gute“ im Verbrecherherz muss man nicht lange suchen.
Ich war vor dem Erdbeben stolz auf eines der schönsten Häuser an der Nordküste von Tiburon (Tiburon heisst der Zeigefinger der in den [echten] Wilden Westen zeigt). Ich hatte kaum Kontakt mit dem Volk, die sprachen nur Kréol, und meine Freunde nur Französisch oder Englisch. Als am 12. Januar 2010 alles zu Scherben, Schutt und Schlamm wurde, hatte mich ein unbekannter Schutzengel Stunden zuvor ins Haus von Melissas Familie geführt, hoch über der Stadt, das nur teilweise zusammenfiel, und ich überlebte. Seitdem lebe ich hier und gedenke nie mehr wegzuziehen. Schutz bedingt Nähe und Vertrauen. Verbrechen habe ich nur in genügender Distanz erlebt (zum Beispiel unten in Pétion-Ville, da wurde mir der Fotoapparat entrissen. Von einem fremden Halbstarken und Halunken, direkt vor der Botschaft, wahrscheinlich aus dem gegenüberliegenden Zeltlager, und völlig mittellos). Wieder ein Vorurteil …
Der Hilf- und Mittellose braucht Lebenswillen und Lebenskraft, um sich zu ernähren und weiter zu leben, er macht dies so wie es gerade geht. Es wirken zentrale, egoistische Energien gegen zentrifugale, nach aussen gerichtete, das Ganze wird zu einer sozialen Manege. Ähnlich dem Stein, den ich ins stille Wasser werfe, von dem eine Weile lang konzentrische Kreise auslaufen bis sie verklingen. Im innersten Kreis sitzt die Familie, im zweiten die Gemeinde, im dritten der Staat, es geht noch weiter. Regelwerke wirken dem entgegen, wollen das Weiterlaufen abstellen, die Form fotografieren, konservieren.
Gut sind beim Lebemenschen die zentralen Kräfte, die zu leben und überleben helfen. Sie wirken den von innen nach aussen wandernden Kreisen entgegen. Doch die Güte liegt in der Beschränkung, und hiezu fehlt meistens die Vernunft.
Nötig sind auch die zentrifugalen Kräfte, die das Lebenlassen schlechter situierter, äusserer Kreise ermöglichen. Ausgleichend wirken. In der Regel geben Diebe, Drogenbosse, Kidnapper und andere Verbrecher den ärmeren Mitmenschen etwas ab und helfen leben.
Haïti ist ein Modell der bipolaren Welt. Ohne „Böse“ gibt es kein „Gut“, zwischen dem Paar fibriert in einem schwebenden Gleichgewicht der zentrifugalen und zentralen Kräfte das Leben, ein Fibrieren zwischen Extremen und Gefühlen, zwischen zwei Polen, die Spannung erzeugen. In Haïti gebieten die Naturgesetze, mehr als in der „entwickelten“ Welt, und die sind immer stärker. Sie sind es, die die Regeln skizzieren, gegen die ist es tunlichst, sich nicht zu sträuben, versuchen mitzufibrieren – oder die Menschen egoistisch allein zu lassen und zu fliehen.
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