In Haiti klappert und scheppert es, in Santo Domingo schüttelt es „nur“. Ein Polizist kam aus Gouadeloupe. Dort rumore es auch. Und auf der südlichen Insel Montserrat ist der Soufrière Hills ausgebrochen, der größte aktive Vulkan der Karibik. Aschenwolken schießen 8 km hoch in den Himmel, Ströme geschmolzenen Gesteins zischen ins Meer und verglasen, Häuser. All die Ereignisse sind so ungeheuer, dass die Menschen an Weltuntergang glauben und panisch reagieren, vor allem in religiösen Kulten. Dies bewegt mich, den Versuch einer einfach verständlichen Deutung dieser natürlichen Ereignisse zu unternehmen, ohne die religiös-übersinnlichen Überzeugungen verteufeln zu wollen.
Zunächst muss man verstehen, dass die Natur vielerlei Zeiten kennt. Die Zeiten unseres Planeten oder der Sterne etwa messen sich in Hunderten, manchmal sogar in Milliarden von Jahren. So lang können sich zum Beispiel Spannungen aufbauen, die sich dann plötzlich – vielleicht in Sekunden – entladen. Mit so viel Gewalt, dass Katastrophen für den Menschen die Folge sind. So kam es in Haiti seit 1600 zu mindestens 20 Erdbebenkatastrophen, die teilweise ähnliche Dimensionen wie beim Beben von 2010 erreichten.
Die Erde ist ein sich immerfort verformendes, lebendes Geschöpf, ein kugelähnliches „Geoid“. Auch das Innere bewegt sich ständig. Es ist schalenartig aufgebaut, und die aus oft flüssigen Gesteinen und Metallen bestehenden zähplastischen Schalen verfließen und mischen sich unentwegt. Auf ihr „schwimmen“ die Platten der Ozeane und Kontinente, die durch die Strömungen im Erdmantel gegeneinander verschoben werden und so zu tektonischen Vorgängen wie Erdbeben, Gebirgs- und Grabenbildung oder Vulkanismus führen.
In Haiti reiben zwei tektonische Platten aneinander: die Karibische Platte und die Nordamerikanische Platte. Die Karibische Platte wandert zurzeit mit einer Geschwindigkeit von 20 Millimetern pro Jahr in östlicher Richtung, die Nordamerikanischen Platte wandert westwärts. Dabei wird die Karibische Platte unter die Nordamerikanische gestoßen. So baut sich ein Kompressionsdruck in den auseinanderliegenden Platten auf, der sich bisweilen schlagartig in Erdbeben entlädt.
„Die Plattentektonik kann als der an der Erdoberfläche auftretende Ausdruck der Mantelkonvektion im Erdinneren aufgefasst werden und beschreibt die Bewegungen der Kontinentalplatten und die daraus folgenden geologischen Phänomene wie die Entstehung von Faltengebirgen und Tiefseerinnen. Die großräumigen Deformationen der äußeren Gesteinsmassen führen zu sekundären Phänomenen, wie Vulkanismus oder Erdbeben, die ihrerseits wiederum Tsunamis auslösen können.“
Den Ort des Erdbebenherdes auf der Erdoberfläche nennt man „Epizentrum“. Das Ausmaß der Schäden hängt von der Entfernung von diesem ab. Das Epizentrum am 12.Januar lag 25 Kilometer südwestlich der „Prinzenstadt“ Port-au-Prince, das Hypozentrum in einer Tiefe von 17 Kilometern. „Hypozentrum“ nennt man den Bebenherd oder die seismische Quelle, den Punkt, von dem das Erdbeben ausgeht. Leider befand sich in unmittelbarer Nähe mein einstiges Haus, sodass dieses mit meinem ganzen Hab und Gut vollständig zerstört wurde. Zum Glück hatte ich das Haus noch rechtzeitig verlassen.
Im Gebiet des Epizentrums vom 12. Januar verläuft die Plattenbewegung entlang von zwei Verwerfungen, die Septentrional-Verwerfung im Norden ( rote Linie ) und die Enriquillo-Plantain-Garden-Verwerfung (EPGFZ Enriquillo-Plantain Garden Fault Zone), grüne Linie . Die grüne Linie zeigt die EPG-Verwerfung auf der Tiburon-Halbinsel. Sie war als Stätte künftiger Katastrophen schon längst bekannt. und ich hatte andernorts geschildert, wie die UNO-Truppen nach ihrem Einmarsch als erste „Amtshandlung“ die Steinbrüche verboten, die auf dieser Linie lagen (z.b. Carrières de La Boule). Tatsächlich haben sich nun die beiden Plattenränder um rund zwei Meter gegeneinander verschoben.
Der US Geological Survey hat eine Karte zum Erdbeben erstellt, die neben dem Epizentrum und der EPG-Verwerfung in Rot die stärkst betroffenen Gebiete zeigt, mit Magnituden von 7 und mehr, die tagelang wirkenden Nachbeben erreichten immer noch Magnituden über 6, 5 und 4. Das Hauptbeben dauerte eine Minute.
„Durch die flache Lage des Erdbebenherdes lagen die Beschleunigung im Epizentrum deutlich oberhalb der Erdbeschleunigung, so dass Autos“ oder Objekte wie mein Bett „durch die Luft geschleudert wurden.“ Für Haiti, Kuba, die Bahamas und die Dominikanische Republik wurde zehn Minuten nach dem Hauptbeben vorübergehend eine Tsunami-Warnung ausgegeben, die Sturmflut im Golf richtete in den tiefgelegenen Stadtteilen trotzdem erhebliche Schäden an. Ein Tsunami ist eine sich schnell fortpflanzende Meereswoge, die überwiegend durch Seebeben (Erdbeben auf dem Meeresgrund) ausgelöst wird. Die meisten Tsunamis werden durch Hebungen und Senkungen nach Erdbeben verursacht. 2004: tötete ein Tsunami im Indischen Ozean 231.000 Menschen in 8 asiatischen Ländern. Über die vulkanischen Auswirkungen habe ich schon im ersten Abschnitt erzählt.
Außer in Haiti und der Dominikanischen Republik waren die Stöße des Erdbebens auch in den Turks- und Caicosinseln, in Teilen Kubas, Jamaikas, Puerto Rico, den Bahamas, Floridas und Venezuelas bemerkbar. Die Erdbeben sind eben eine Begleiterscheinung der Erdgeschichte, insbesondere der Kontinentaldrift. und die steht nicht still. Übrigens haben auch Klimaveränderungen – unter anderem – damit zu tun. Kontinentaldrift ist die durch die Plattentektonik verursachte, langsame Bewegung, Vereinigung und Aufspaltung von Kontinenten. In der Zeit der Satellitengeodäsie sind an den Kontinentalrändern die feinsten Bewegungen messbar. Normale „Geschwindigkeiten“ sind da 1 bis 10 cm/Jahr. Dass sich im derzeitigen Erdbeben die Plattenränder an der EPGFZ-Verwerfung bereits um über zwei Meter gegeneinander verschoben haben, spricht für das Kaliber dieses Bebens.
Wegen ihrer Trägheit benötigen die Platten Dutzende von Jahrmillionen, um zum Stillstand zu kommen und noch länger, um ihre Bewegung umzukehren. Im Laufe der Erdgeschichte bildeten sich fünf oder sechs „Superkontinent-Zyklen“, in welchen alle Kontinente zu einer Landmasse vereint waren und wieder auseinanderbrachen. So umfasste vor 320 Millionen Jahren die Landmasse der Erde nur zwei Kontinente, Gondwana und Laurasia. Vor 250 Millionen Jahren waren dann beide zum Riesenkontinent Pangaea zusammengewachsen, der vom Ozean Panthalassa umgeben war, und in den sich von Osten die Tethys wie eine riesige Bucht hinein erstreckte. Dann begann der Zerfallsprozess der Kontinente, der in der Zukunft weitergeht. Ostafrika wird sich entlang des Ostafrikanischen Grabenbruchs von Afrika abspalten und einen neuen Ozean bilden, Iberien wird sich von Europa lösen und sich dabei im Uhrzeigersinn abdrehen, Niederkalifornien wird sich entlang der San-Andreas-Verwerfung vom amerikanischen Festland abtrennen und dabei nach Nordosten wandern, Nord- und Südamerika werden getrennt, in 200 Millionen Jahren wird sich die Antarktis Mexiko so stark angenähert haben, dass beide am Äquator liegen und die Antarktis wird üppig bewachsen sein wie auch schon. Um auf Haiti und die EPGFZ-Verwerfung zurückzukommen, wird sich dieser entlang Hispaniola in eine Nord- und eine Südinsel geteilt haben und dazwischen, vom heutigen Golf von Port-au-Prince über Cul-de-Sac bis Barahona ein neues Meer ausbreiten, wie auch schon. Lac d’Azueÿ, Lago Enriquillo und einige kleinere Brackwasserseen und Depressionen sind Reste davon. Erdbeben und Vulkane sind mörderische Stolpersteine auf der Wanderschaft durch die Erdgeschichte.
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