Wer zur Maidemonstration will, muss zeitig aufstehen. Es dämmert gerade einmal, als die Menschen zum Treffpunkt eilen. Zwischen fünf und sechs Uhr ist Stellzeit an der „Plaza de la Revolucion Antonio Maceo“ in Santiago de Cuba. Noch zeitiger hat es die Händler aus den Betten getrieben. Denn als die Werktätigen zu ihrem Ehrentag laufen, sind überall am Wegesrand die Pizzaöfen bereits angeheizt, dampft es aus Kannen mit Kaffee, warten Käse- und Wurstbrötchen auf hungrige Käufer. Der 1. Mai verspricht für die Selbstständigen ein gutes Geschäft zu werden, auch wenn die Zahl der Demonstrationsteilnehmer arg rückläufig ist. Die Organisatoren haben sich darauf eingestellt. Der Korridor, durch den marschiert wird, ist vor der Tribüne durch Holzböcke eingeengt. So wird der Zug länger erscheinen, als er eigentlich ist.
Die Absperrungen stammen noch vom Besuch des Papstes, der hier erst vor einigen Wochen zu den katholischen Gläubigen sprach. Und vor den hölzernen Blockaden haben sich menschliche postiert. „Cordon“ sowie die Losung „Preservar y perfeccionar el socialismo“ steht auf den weißen, nummerieren Namensschildern der Ordner. Besonders steng sind sie vor der Ehrentribüne. Ihr Auftrag ist klar. Niemand außer ihnen darf bis an die Absperrungen herantreten. Und während der Demonstration werden sie den Vorbeimarschierenden den Rücken zu wenden und misstrauisch auf die wenigen Zuschauer blicken: Hält da nicht vielleicht jemand ein nicht genehmes Plakat?
Die revolutionäre Wachsamkeit ist an diesem 1. Mai in Santiago de Cuba unnötig. Nur Bonbonverkäufer versuchen die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die Santiagueros betrachten die Demonstration als Auftakt für ein großes Fest. Bereits am Vortag hatten die staatlichen Restaurants spätestens 22 Uhr geschlossen. Schließlich benötigen die Werktätigen vor so einem Tag ausreichend Schlaf.
Punkt sieben Uhr erstarrt alles Leben am Platz der Revolution. Die Nationalhymne erklingt. Dann setzt sich der Demonstrationszug in Bewegung. An der Spitze Minister und Vizeminister, Abteilungsleiter und Direktoren, ordengeschmückte Veteranen, Militärs. Über Lautsprecher werden sie begrüßt, werden ihre Namen genannt. Beifall ertönt. Dann steigen sie die Stufen herauf auf die Tribüne. Von hier aus werden sie jetzt den ihnen folgenden Werktätigen zuwinken.
Tausende sind es, die sich inzwischen auf der Ausfallstraße zur Autobahn versammelt haben. Sie tragen kubanische Fahnen, selbst gemalte Plakate, Fotos von Che Guevara, Revolutionsführer Fidel Castro und seinem Bruder, Staatspräsidenten Rául Castro. Die Studenten der Universität erinnern an den revolutionären Studentenführer Frank Pais. Sogar ein Lenin-Bild mit der Aufschrift „Proletarios del Mondo untos!“ wird mitgeführt. Mehr Produktivität und Effizienz zu Ehren des 1. Mai versprechen die Werktätigen auf Plakaten. Kleine Kinder, die auf den Schultern ihrer Väter sitzen, schwenken kleine Fähnchen. „Viva Fidel! Viva Rául! Viva socialismo! Viva la revolucion cubana!“, ertönt es aus den Lautsprechern. „Abajo el bloqueo imperialista! – Nieder mit der Blockade der Imperalisten!“ Floristinnen zeigen Beispiele ihres Könnens. Das Fischereikombinat führt einen Kutter aus Pappmaché mit sich und zeigt Beispiele gefangener Fische. Dazwischen marschiert eine Militärkapelle. Kulturgruppen zeigen Programmausschnitte.
Abgesehen von Polizei, Armee, Gesundheitsbehörde und Bildungseinrichtungen gibt es keinen Uniformzwang, die Santiagueros haben sich schmuck gemacht, tragen bunte T-Shirts fernöstlicher Produktion. Auch von hinten wirkt der Demonstrationszug wie eine Reklameshow für die chinesische und südkoreanische Konsumgüterproduktion. Denn die Pappen, auf denen für die Revolution geworben wird, tragen auf der Rückseite die Logos kapitalistischer Firmen.
Nach genau einhundert Minuten ist alles vorbei. Die Demonstration ist zu Ende. Die Massen sind abgezogen. Die riesigen Fahnen, die an den Auslegern zweier Autokrane über dem Platz wehten, sind eingeholt. Vielleicht hundert Frauen und Männer stehen noch vor der Tribüne, auf der jetzt eine Kapelle spielt. Plötzlich wird getanzt. Salsarhythmen. Eine Stunde vielleicht. Dann ertönen Tröten und Trommeln und eine Konga-Band setzt sich in Richtung Innenstadt in Bewegung. Ihr folgen die letzten Werktätigen. Denn jetzt wird in den Stadtteilen der 1. Mai richtig gefeiert. Ohne Absperrungen.
Autor: Peter Chemnitz
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