Heute ist jetzt ein Schulbesuch an der Reihe. Zusammen stapfen wir hinunter in die Schlucht und beobachten die drolligen Strassenknirpse für kurze Zeit, denn diese drängt. Das Schul-Lied wird noch rasch vorgeführt und dann „los von Rom“ – wir wollen ja noch die karibische Küste erreichen, das sind ein paar Stunden Fahrt ohne Fotohalte, an zahllosen bestbekannten Stätten vorbei, meist Trauerstätten die Anna noch VOR dem Schreckensereignis kennen lernen durfte.
Möglichst rasch wollen wir die wohl baldige Dreimillionenstadt mit ihren grauenhaften Slums, meist noch staubigen, teilweise schon blühenden Trümmern hinter uns lassen. Über an sich rechte, aber meist unvorstellbar verstopfte Strassen, teilweise mit noch klaffenden Erdbebenrissen geht’s 600 Höhenmeter abwärts: Pétion-Ville-Canapé Vert, durch die Stadt, die ich sarkastisch „Prinzenstadt“ zu nennen pflege. Es sind gegen 70 „Prinzen“, die sich in 200 Jahren um die Reichtümer gestritten haben. Prinzessinnen waren seit Königin Anakaona, der schreibenden „Goldenen Blume“ keine mehr dabei, da die Herren der Schöpfung das Matriarchat stets abzuwürgen versuchten.
Um den Ölhafen beginnt eine nigelnagelneue Strasse, teils dreispurig, und über die „Route des Rails“ (Strasse der Schienen, weil es hier mal eine Eisenbahn gab) umfährt man nur in Minuten Carrefour und gelangt endlich aus der Agglomeration hinaus. Mit Glück kann in Minuten passieren was einmal eine Tagreise sein konnte. Sage noch einer, in Haïti entwickle sich nichts …
Die Küstenstrasse ist seit einem Jahrzehnt asphaltiert, aber durch einige gehörige Erdbebenschäden gezeichnet. Immerhin sind tausende von Zelten verschwunden, die noch vor kurzem Rand- und Mittelstreifen dekorierten, und die an ihrer Stelle platzierten Palmsetzlinge warten nur noch auf Wasser. Und Wachsen und Warten auf gwundrige Touristen kann beginnen.
Am Eingang der Route de Rail in die „normale“ Küstenstrasse N2 und am Ausgang aus der Stadt erinnert seit 2 Jahren, genauer seit dem 12. Januar 2012, ein Panzer der UNO daran, was hier eigentlich los ist, die Touristencams sind noch ein Stück weit weg, nicht nur wegen der Palmsetzlinge. Mannschaft und Munition des Panzers werden jeden Tag ausgewechselt. Die blauhelmigen Soldaten kennen meist den Unterschied zwischen Jungen und Mädchen und die Sprache der Kanonen, den Unterschied zwischen Englisch und Kreolisch oder Dollar und Dolla (landes- aber nicht bankenübliche einheimische Währung) kennen sie ja nicht. Brauchen sie auch nicht zu kennen …
Nun geht’s flüssig am kilometerlangen Mache- (Marché=Markt) -de-Mariani vorbei, der von einer bunten „Blumenwiese“ farbenprächtiger Standdächer beschattet wird. Die sind immerhin verschwenderisch besser als das traurige frühere Schlachthaus mit den umliegenden Vieh- und Pferdemärkten. Mehrere Bergbäche überfluteten hier Jahrzehnte lang die Piste und verwandelten die N2 in einen oft unpassierbaren Morast, der schon manchem Wagehals das Leben gekostet hatte. Heute haben sich die Störbäche in ein System unterirdischer Röhren verzogen, sodass die Passage noch Sekunden dauert. Schon wieder Zeit gewonnen. Ich frage mich nur, was all die Reisenden mit so viel Gewinn anfangen.
Zwanzig Kilometer von der Hauptstadt durchfahren wir Gresye, wo ich bis zum 12. Januar 2010 meinen Traum ausleben durfte. Obschon Anna schon vorher da war und mein Traumgut kannte, fahren wir vorbei, da ein flüchtiger Besuch nur noch Weinkrämpfe ausgelöst hätte.
Es geht weiter nach Léogâne, die Stadt, die ebenfalls völlig in Trümmern lag. Nur Kilometer weiter geht’s linksab und steigt steil auf die Kammhöhe der Südkordillere. Die Strasse nach Jacmel ist seit jeher gut ausgebaut, mit einer Schweizer Alpenpassstrasse durchaus vergleichbar. Die vielen Haarnadelkurven sorgen für immer wieder neue landschaftliche Ausblicke und Augenweiden, echte Kostbarkeiten für die die das sehen. Anna gehört durchaus zu dieser Gilde.
Immer wieder fahren wir an Universitäten vorbei, die in ihrem Umkreis unübersehbar wertvolle Arbeit leisten. Hangsicherung und Erosionsbekämpfung, Wildbachverbauung, Agronomische Arbeit, Terrassierung und Bepflanzung der Hänge, Bienen- und andere Tierzucht-Anlagen, und Früchtepräsentation; wunderbar sind die kunstvollen Pampelmusen und andere Tropenfrüchte zu Türmchen geschichtet und werden der Strasse entlang verkauft.
Auf rund 1000 Metern überqueren wir die Südkordillere, und wieder mit angemessenen Kurven geht es karibisch bergab, im Hintergrund immer das gleichnamige Meer. Das lügt hier mit seinem Aquamarin nicht Sauberkeit vor, wie in Stadtnähe aus der Ferne. Es ist wahrhaft naturrein und klar. Und das üppige Grün der Szenerie macht die kahlgeschlagenen Höhen und Flanken nachgerade vergessen.
Die Bucht von Jacmel kommt näher und näher, und schliesslich sind wir unten und begleiten den Fluss, durch den man sich früher vorwärts kämpfen musste. Dann bauten amerikanische Sappeurtruppen die ersten Eisenbrücken, und Jacmel wurde endlich zugänglich. Noch heute aber führt keine Brücke ins „Vallée de Jacmel“, das gleichnamige Tal, und der Fluss dient als einzige „Strasse“. Intuition ist gefragt, um die untiefsten Stellen als Trassee zu treffen, denn sonst riskiert man dass der Wagen via Fenster-Öffnungen voll läuft oder ab in die Tiefe säuft. Wenn du da Glück hast und wieder raus ans Trockene kommst, geht es über steile Bergstrassen hinauf in die Höhe. Zuoberst auf einer Bergspitze befindet sich ein prächtiges Hotel; der gleiche Rückweg aber ist lang und macht eine mögliche Rundtour zunichte. So machen wir diese virtuell und fahren vorbei nach Jacmel.
Das malerische Städtchen wurde vom Erdbeben ebenfalls teilweise zerstört, konnte aber einige seiner alten Gingerbread- (Lebkuchen-) -häuser bewahren. Jacmel ist berühmt für seine kulturellen und künstlerischen Darbietungen; unter anderem findet hier alljährlich ein berühmtes Filmfestival statt. Jacmel besitzt auch einen Flugplatz und ist von Port-au-Prince aus in wenigen Minuten per Flugzeug erreichbar. Die Küstenstrasse ist gut asphaltiert und meist bis Marigor zugänglich. Von hier aus sind spätere Übergänge über den La Visite-Nationalpark nach Pétion-Ville und über den Foret-de-Pins-Nationalpark nach Ganthier vorgesehen, die einmal prächtige Rundtouren erschliessen. Vorderhand aber sind die Routen noch von Löchern und Hangrutschen gezeichnet und nicht empfehlenswert.
Unterwegs bei Meyer befindet sich die Schule „SOS-Enfants Haïti“, die wir mit unseren Lesern verschiedentlich unterstützt haben. Leider hat sich der Besitzer, ein lieber Freund auch aus der Schweiz, noch vor dem Erdbeben das Leben genommen. Er musste sein prächtiges Hotel „Cyvadier Beach“ nicht mehr in Trümmern erleben, denn dieses stürzte ebenfalls zusammen, wurde später aber wieder aufgebaut. Die Lage an einer einzigartigen Bucht rechtfertigt durchaus einen Besuch oder sogar einige Ferientage.
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