Ich hatte (wahrscheinlich habe immer noch) einen Schweizer Freund, der sammelt Hab und Güter in der sauber verriegelten Stadt, einer Stadt voller Normen und Vorschriften. Nach aussen unterstützt er die Sprayerverbote und den Schutz des unbefleckten Eigentums, umgekehrt hat er einen Gutfleck am Herz und möchte den jungen Pinsel- und Spritzhelden etwas entgegenkommen. So stellt er einige Mauerfluchten für Sprayer zur Verfügung. Mauerfluchten, die man nicht sieht. Nach innen gegen die Hofseite zeigen sie Kreativität – nach aussen gegen die Strasse bleiben sie sauber und kahl, oder fernab neben dem Haus wo niemand mehr vorbeigeht und hinsieht gibt’s eine Fortsetzung. Frage ist nur, für was für Geister die Sprayer malen wollen und dürfen.
Es scheint fast, wie wenn mein Freund den Schein verstecken würde. Denn Schein nach innen ist weder üblich noch nütze. Schein muss sich nach aussen richten, muss gesehen werden. Oder ist es das Vorgaukeln einer unüblichen Einstellung? Nach innen der Toleranz gegenüber Künstlern und Alternativen, nach aussen der Angepasstheit an das was als „üblich“ gilt?
Hier in Haïti stellt sich die Frage nicht. An zahllosen jungfräulichen, wieder aufgerichteten Mauern produzieren die Künstler ihre Werke. Meist braucht es eine Initialzündung, und oft wird da ein Bild über das andere, eine Schrift über die andere gemalt, sie müssen es doch zeigen, wenn sie schreiben können. Aber auch ohne Schriften sind die Mauern „Geschichtsbücher“, sie leben und über – leben. Zwar blättert in der Hitze dauernd einiges ab (oft ist es das Wichtigste … ) und bildet bunten Staub, deshalb sind die Mauern „staubig“. Aber verstauben wie deine papierenen Geschichtsbücher aus der Schulzeit? DIESE Geschichtsbücher können das nicht. Hier LEBT Geschichte, und wie!
So lesen wir in wundervollen Lettern, oder wenn wir diese nicht lesen können, in lebenden Bildern von der Zeit VOR dem Goudou-goudou mit ihren Geistern und Gespinstern, als alles noch „in bester Ordnung“ war. Dann wurden Mauern errichtet, hier aus Backstein ohne Eisen, die beim Schreckensbeben zusammen krachten. Und viele Menschen unter sich begruben. „Bei uns“ könnten sie das nicht. Denn sie sind aus Beton, erdbebensicher. „Sauber“ und kahl. Ohne Sprayereien.
Sprayereien werden hier eben geduldet. Ein verzweifelter Haïtianer streckt die Landesfahne hoch. Sie ist zerknittert. Aber die Mauer „geht noch weiter“. Auf beiden Seiten. Und die Fahne geht wieder auf. Du kannst selbst deine Entdeckungen suchen. Die Volksmaler suchen mit nach einer Zukunft. Nach einer Nation, auch Selbstsuche aus dem Chaos. „Ordnung“? Die suchen sie nicht. Die wird ihnen aufgezwungen, von fremden Truppen. Mit Knüppeln und Gewehren. Denn da muss alles gerade sein. Schnurgerade, aber leer.
Sehr geehrter Herr Hegnauer,
seit kurzem verfolge ich ihren Blog, da ich mich aus persönlichen Gründen gerne näher mit der Kultur und dem Leben in Haiti vertraut machen möchte. Dieser Artikel ist für mich ein wundervolles Zeugnis eines der großen Unterschiede zwischen der haitianischen („menschlich-simplen“) und unserer mitteleuropäischen („regelverpflichteten“) Denkweise.
Ich möchte mich daher herzlich bei Ihnen für Ihre immer wieder so aufschlussreichen Schilderungen aus Haiti bedanken, die so viel mehr aussagen als jeder Journalistenbericht. Ein großes Lob dafür, dass Sie auch trotz aller spürbaren Liebe und Respekt für dieses Land und seine Bewohner nicht davor zurückscheuen, in unseren Augen negative Vorkommnisse anzusprechen und ihnen einen Sinn zu verleihen.
Herzlichen Dank und weiterhin viele wundervolle (teilenswerte ;) ) Erfahrungen!