Haiti: Abwechselnd zu viel oder zu wenig Wasser

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Datum: 18. Februar 2013
Uhrzeit: 15:08 Uhr
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Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Die 100.000 Seelen-Stadt Gonaïves wurde zum Sinnbild des Schreckens. Die Stadt selber liegt zwar in der Ebene, eingebettet in einen Kranz baum- und harmlosen Hügel, aber die tödlichen Fluten kamen von ausserhalb, teils von weither. Diesen gigantischen Trichter wollen wir uns jetzt einmal ansehen, um zu begreifen, woher so viel Zerstörrung denn kam (Un- und Umland).

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Immer wiederkehrende Katastrophen sind eine Folge des immensen Einzugsgebietes des Rivière d`Ennery (Ennery-Fluss; die Stadt Ennery liegt mitten im „Sammeltrichter“ und ist die Heimat des Revolutionsführers Toussaint Louverture) in Verein mit dem grossflächigen Kahlschlag wegen des Holzkohlebedarfs zu Kochzwecken. Die „Schuld“ beginnt damit bei den Vorfahren, für die „Wiederaufforstung“ ein Fremdwort war.

Die Ursache des Desasters war hier weder der Sturzregen noch die schlechte Bauweise, denn die ursprünglichen, leichten Häuschen haben all den Erdbeben in etwa standgehalten, sondern die ungebremste Flutung des Wassers aus den Bergen, das der Ennery zusammenraffte und über Gonaïves ausschüttete. Ein Brei aus Schmutz, Schlick und Schlamm, so genanntem „Wasser“.

Paradoxerweise war das Problem gleichzeitig ein Zuviel und wie auch kein Kein Wasser, denn versteht sich, alle Trinkwasserzugänge waren zerstört. Das Wasser muss zuerst aufbereitet werden und wird dann kesseliweise an die Bevölkerung verteilt. Bilder und Augenschein stammen natürlich von einem viel späteren Datum, denn während der Katastrophe und noch lange nachher war die Gegend nicht zugänglich. Du siehst immerhin, dass es jahrelang nicht „normal“ wurde in Gonaïves.

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Gonaïves wurde anders. Zu einem Zentrum der Hilfsaktionen des Nordens, die vorwiegend von hier aus das Nordland umspannen (das „Südland“ wird meist von Pétion-Ville über Port-au-Prince aus gesteuert). Und als dritte „Kommandobrücke“ gibt es noch die die Palaisruinen mit der echten Regierung, die um Beachtung strampelt. Doch die Regierungsgeschäfte werden weitgehend von den Hilfswerken wahrgenommen, denn die haben das Geld und damit das Sagen. Sie kümmern sich wenig um das, was die Armen beschliessen (Regierung mitgemeint). Das grösste Problem besteht darin, dass die vielen Kräfte völlig unkoordiniert vorgehen. Weil jede meint, das Alleinrichtige zu tun.

Ein Augenschein, selbstredend Jahre später, offenbart es: die Stadt hat sich zu einer „Industriestadt“ entwickelt, mit einer „Industrie der Hilfswerke“. Es gilt ja nicht nur die Welt der 100.000 wieder lebenswert zu machen, sondern es ist eine Welt der Millionen, denn auch das weite Umland ist betroffen und braucht Hilfe. Und die hat sich eben auf Gonaïves konzentriert. Hier gibt es Arbeit jeder Art, fast immer bei den Hilfswerken. Man braucht Autos zum Verteilen der Hilfsgüter, logistische Betriebe, Wohn- und Geschäftshäuser. In gewissen Strassen sind denn auch an jedem Haus Schilder mit Namen von Hilfswerken angebracht. Es hat sich fast ein neuer Landschaftstyp entwickelt. Eine Art Industrielandchaft ohne rauchende Fabrikschlote, aber ebenso traurig.

Einen neuen Landschaftstyp bilden auch die Wohnhäuser der Glücklichen, die eines bekommen haben. Die kleinen hölzernen Baracken sind bunt bemalt, damit man sein Haus besser wieder findet, denn alle „Häuser“ sind gleich. Sie bestehen aus einem einzigen, kleinen Raum und werden meist von einer Familie mit 10 oder mehr Personen bevölkert. Sie werden, so hofft man, ein paar Jahre halten. Bis dann hoffen alle auf eine bessere Welt, und auf genügend Mittel, um wieder ein richtiges Haus zu bauen. Als Toiletten benützen die Bewohner einer Siedlung die Siedlungstoilette, die das Rote Kreuz hoffentlich aufgestellt hat und gebührend unter- und sauber hält.

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Zuerst waren es die Zelte, die die Glücklichsten ergattern konnten. Es entstanden riesige Zeltlager, die für einige Wochen oder Monate Wind- , Regenschutz und „Obdach“ boten. Jetzt, 8 Jahre nach der Katastrophe, hängen immer noch Laken davon herum, unter denen Menschen „wohnen“. Die Zelte kennt man meist an den Hilfsorganisationen, die sie gespendet haben. Jede einen anderen Zelttyp, eine andere Marke, eine andere Reklametafel davor, versteht sich. Selbst religiöse Sekten und offizielle US-Stellen stellten Reklametafeln auf, wohl für die Kameras der Presseleute. Letztere sind indessen verschwunden, so auch die Reklametafeln

Die meisten suchten die Reste ihrer einstigen Behausungen, die in dem langen Wasserbad zerfallen waren. Sie wurden mit übriggebliebenen Zeltlaken und Wellblechen dekoriert, mit gestohlenem Strom reichte es später vielleicht sogar für einen Fernseher, der ist wichtiger als Wasser. Das muss man nach wie vor bei einer Abgabestelle im Kesseli auf dem Kopf hertragen

Man könnte auch von einer Post-Katastrophen-Landschaft sprechen. Die sehen worldwide ähnlich aus. Nichts mehr gemein mit einer Chalet-Landschaft im Berner Oberland. Aber eben, in dieser Landschaft gelten andere Werte als Schönheit und Heimatstil.

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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