Vom Geldsack zum Bettelsack

Maibaum-2

Datum: 01. Mai 2010
Uhrzeit: 05:37 Uhr
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Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Heute ist 1. Mai, Tag der Arbeit, Tag der Maibräuche und Missbräuche, Tag der Randalierer, schwarz oder bunt wie die Welt. In Haiti sind Junge nicht mit Transparenten und Pflastersteinen, sondern mit Schaufeln und Maisäcken unterwegs. Wissen Sie, was ein Maisack ist? Das wissen Sie bestimmt noch nicht. Der 1. Mai ist auch in Haiti schulfrei und wird nicht nur als Fest der Arbeit gefeiert, sondern er ist auch das Fest der Bäume, die gibt es ja kaum mehr, so wenig wie Arbeit.

Gegen das Genozid an den Bäumen will man so die Jugend sensibilisieren. In Säcken verpackt tragen Kinder ihre Setzlinge aufs Land und pflanzen ihren zukünftigen Wald. Sie schaffen so eine Beziehung zum eigenen Baum, den sie fortan besuchen, pflegen und weiter beobachten werden. Ein wundervoller Brauch in einem Land, wo fast alle Bäume abgeholzt oder verkohlt wurden. Ich verpasse ihn dieses Jahr, da ich erst am 8. wieder hinfliegen werde.

Es gibt auch menschliche „Säcke“, Strohsäcke und Fressäcke, Geldsäcke und Bettelsäcke. Worte aus meiner Jugendzeit, gelegentlich mitbekommen. Mit „Strohsäcken“ meinte man, qualitativ formuliert, die Holzköpfe und Schlitzohren, die Lümmel und eben, Randalierer. Quantitativ ausgedrückt, scheinbar die meisten. Scheinbar, weil die Minderheit immer lautstärker ist, und am meisten auffällt. Sie wollen leben, beachtet und gehört werden, und schaffen sich Nachdruck, schaffen Trümmer und Scherben, weil sie noch nie erlebt haben, dass die Natur das genügend erledigt.

„Fressäcke“ nannte man die, die Essen mit Fressen und Glück verwechseln. Im Restaurant, am Pizzaofen. Einige haben Plastiksäcke bereit, zum Abfüllen, unter dem Tisch. Die Fressäcke haben nie genug, nicht im Teller und nicht im Bauch. Der sei eben gestrickt, so argumentieren sie. Aber eigentlich ist nicht das Essen die Hauptsache, sondern das Zusammen-Essen, die Gesellschaft, das Soziale. Da ist Zeit zum Schwatzen, zum Verdauen, zum Leben, wenn man sonst keine Zeit hat. Sie wollen glücklich sein und glücklich machen, später einmal glücklich sterben. Aber sie sterben unglücklich, zu früh, an den Folgen des Fressens.

„Geldsäcke“ sind die, die im Geld baden, alles im Überfluss haben, denen ein einziges Ding von allem nie genügt, ein Haus, oder ein Auto. Sie wollen gleich mehrere haben. Sie wollen auch nicht verstecken, was sie horten. Man muss sie zeigen, die Sozialstufe, auf welcher man steht. Die kann man sich erkaufen, mit Geld und Besitztümern. Ich selbst konnte mich nicht gerade als Geldsack bezeichnen, hatte ich zu diesem Gut doch schon immer eine gebrochene Beziehung. Aber ich hatte mir in der Schweiz immerhin einige Häuser verdient und ererbt, vor dem Exodus leider verkauft und den ganzen „Erlös“ in die spätere Katastrophe investiert – mit der ja niemand rechnete – und jetzt ist alles weg, und ich bin ein Bettelsack.

Als „Bettelsack“ hat man in meiner Jugendzeit einen Habenichts bezeichnet, wobei man das blitzschnell werden kann. So wie beim Jahrhundertbeben. Ich wurde vom Geldsack zum Bettelsack, Sekunden genügten dazu. Derartiges ist nur mit dem Besitz oder Verlust von materiellen Dingen möglich. Gleichzeitig stieg mein immaterieller Reichtum.

Noch bevor ich über die neuen Reichtümer plaudere die man gewinnen kann, muss ich doch den einzigen Reichtum nennen, den ich behalten habe: Leben und Gesundheit. Dies ist zugleich der größte Reichtum überhaupt, der auf Erden existiert. Ich habe überlebt, wieder einmal. Wie schon in einigen Katastrophen, unverletzt, unverdient, und ich fühle mich gesund. Hunderttausende haben das nicht. Ich bilde mir nicht ein, das allein bewirkt zu haben. Hier hört die beweisbare Wissenschaft auf. Und ich überlasse es jedem Leser, sich seine Rückschlüsse selbst zu bilden.

In meiner Kolumne von gestern (Auch ein Trauerspiel spielt seine Trümpfe) konnten Sie lesen, dass auch das seine Vorteile hat. So plötzlich wie Geld und Gut in Schutt und Scherben kippt, so schlagartig füllt sich die unstoffliche Schatzkammer, die Truhe der Glücksgüter, die sich nicht mit Häusern, Autos und Dollars messen lassen. Ja, man kann reicher werden, wenn man das ganze Vermögen verliert. Reicher an Erlebnissen und Erfahrungen, reicher an Erkenntnissen, reicher an Freunden, und vor allem lernen andere, was ich selber natürlich schon lang wusste, dass es viel bessere Vermögenswerte gibt als die aus Geld und Gold.

Ein Reichtum, den man nie verlieren kann wie den materiellen, ist der an Erlebnissen. Der ist unvorstellbar, und ich habe ihn ein Leben lang gehäuft und gepflegt. Er hat sich in unzähligen Kolumnen niedergeschlagen, und während ich sie niederschreibe oder wieder lese, lebt alles nochmals auf, nochmals und nochmals. Wenn Sie diese Kolumnen gelesen haben, wissen Sie es selbst: nur wenige durften so viel erleben auf dieser Welt wie ich. Die Zerstörung meiner Besitztümer hat mich zu einem der reichsten Männer dieser Erde gemacht, ja, Sie haben richtig gelesen, an Erlebnissen.

Auch der soziale Reichtum ist explodiert. Ich bekam so viele Einladungen, dass ich gar nicht alle wahrnehmen kann. Ich bekam neue Freunde, und alte sind neu auferstanden. Solche seit der Grundschulzeit. Ich muss Acht geben dass der soziale Reichtum nicht inflationiert. Ich hoffe, dass ich genug einheimische Freunde finde, die mir beim Bau einer neuen Bleibe helfen. Für die Heimstatt darf das bescheiden sein. Aber paradox: zum Geschichtenschreiben muss Satellitentechnik und Strom dabei sein, und dazu braucht es einige Münzen. Wenn Sie mir etwas helfen können, ganz vielen Dank!

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SWIFT: MIGRCHZZ80A

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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