Heute war Melissa immer noch sehr schwach, krank und bettlägerig. Sie sei das Opfer einer Epidemie, alle hätten das durchgemacht, lautete die lakonische Antwort auf meine Frage. Ich konnte nur hoffen, nicht auch noch ein solches Opfer zu werden. Das schuf natürlich Zeit für anderes. Zuerst schrieb ich am Tagebuch, das dauerte von sechs bis zehn, dann war das fertig. Natürlich ohne Internet-Transfer, denn die Verbindung klappt immer noch nicht. Danach blieb noch einige Zeit für eine Siesta, die hatte ich nötig. Ulli machte sich nützlich durch Schaffen einer Regenwasserfassung und eines neuen Schlafplatzes, beides auf dem Dach. Das Schlimmste hier ist ja das Fehlen von Wasser, das muss man stundenweit über Stock und Stein herauftragen. In schweren Kübeln auf dem Kopf, meist tun das die Kinder. Dafür sind Aussicht und Luft paradiesisch, und es ist kühl wie in den Schweizer Bergen.
Ich ließ es mir nicht nehmen, unseren Schlafplatz während der zehn Tage vom 12. bis zum 22.Januar innen und außen anzusehen, der hatte sich enorm verbessert. Das geräumige, selbstgebaute Zelt enthielt jetzt mehrere Betten und war mustergültig aufgeräumt. Es seien noch dieselben Menschen, die jede Nacht hier schliefen, mit unserer Ankunft sei es das erstemal, dass die Leute ins steinerne Haus umzogen. Es bebe aber noch regelmäßig, und ich hoffe sehr, mit meiner Innen-Schlaferei nichts Schlechtes vorgemacht zu haben.
Nun blieb auch noch Zeit, die Nachbarn und ehemaligen Mitleidenden gebührend zu begrüßen. Ulli führte ich mit Exumé zusammen, dem Pflanzendoktor. Der Arztsohn ist in Indien ein leidenschaftlicher Homöopath und war gierig, seinen haitianischen Kollegen kennen zu lernen. Da Ulli nur englisch und Exumé nur kreolisch spricht, war es für mich als einstigen Kommunikations-Spezialisten interessant, die Fachdiskussion zwischen den beiden zu verfolgen. Ulli holte einige Pflanzenteile und mimte Krankheitszustände, die auf die Kräuter reagierten, und mit viel Gestik und Lachen schien die Kommunikation zu gelingen. Jedenfalls fand Ulli an deren Ende, etwas gelernt zu haben und wollte in Zukunft Ähnliches wiederholen.
Mit Mama Marie war es schon einfacher. Da geht es kreolisch. Sie freute sich ob meiner Anwesenheit wie ein Kind und umarmte mich. Ich eröffnete ihr, dass eine Spenderin für sie einen Sack Reis finanziert habe, der morgen abgegeben werde. Weitere Spenden an andere Bedürftige werden folgen. Dass ihr Haus seinerzeit ebenfalls stark in Mitleidenschaft gezogen wurde, hatte ich gar nicht bemerkt. Die „Aussichtsterrasse“ mit überwältigendem Tiefblick auf die Trümmer der Hauptstadt hinunter ist unabsichtlich, durch Unfall entstanden.
Das Internet funktioniert noch nicht. Wir haben einen Nachbarn zum Provider gebeten und das Geld für einen Monat mitgegeben. Es papiertigert aber schon wieder im zerstörten Haiti. So wurde der hilfreiche Bote unverrichteter Dinge zurückgeschickt, jeder Weg immerhin eine Fuß Stunde lang, weil er keinen Ausweis von mir bei sich trug. Ich musste ihm also die Identitätskarte mitgeben, und das nächstemal schickte man ihn wieder zurück. Diesmal weil er zu wenig Geld bei sich hatte, es wurden nämlich sämtliche Monate belastet, auch wenn die Anlage immer stillgestanden hatte. Für den Profiteur sind das eben Vertragsmonate. So viel Geld hatten wir nicht, wir müssen zuerst morgen und die Öffnung der Bank abwarten, falls die Leute bis dahin kein Einsehen haben. Jedenfalls wird es wieder neue Verspätungen geben, und das Tagebuch weniger aktuell sein als gewohnt.
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