Eigentlich wollte ich über den Tag schreiben, den heutigen, der eben beginnt. Die letzten Hähne schreien sich aus, es ist morgens fünf Uhr. Aber ich schreibe lieber über die Nacht, die war so überwältigend, mit ihren Tönen. So klangvoll, so erregend, dass Schlafen eine Sünde gewesen wäre. Jetzt beneidete ich sogar Ulli, der auf dem Dach liegen wollte, da schlief man wohl noch weniger.
Sie wissen ja, alles hat zwei Seiten. Ich beginne mit dem Negativen, so kann ich mit dem Positiven schließen. Also, eigentlich wollte ich über den Tag schreiben, aber morgens um fünf da ist es noch dunkel. Pechschwarze tropische Nacht. Und ich brauche die kleine Dynamo-Tastenlampe, um die Tasten und anderes zu sehen. Meine Frau hat mir das kleine Ding mitgegeben, Sie würde jetzt wohl wieder ausrufen, mir könne man nie etwas in die Hand geben, ich bringe doch alles ans Ende. So nach ihrer Art. Ich hatte das Ding stets an einer Gurtschlaufe angehängt, solche Dinger wurden für mich lebenswichtig. Vielleicht ist das die Strafe, jemand will mir zeigen, was lebenswichtig ist: die kleine Drehkurbel aus Plastik zerbrach, und das werden mir auch die geschickten Haitianer und der Inder nicht mehr flicken können. Vorläufig versuche ich, im Lichte des Bildschirms zu schreiben.
Stunden zuvor waren es noch die Stöhn- und Klagelaute Melissas im Zimmer daneben, sie litt offensichtlich ungemein und muss unbedingt wieder ins Spital, weitere Antibiotika eingespritzt erhalten, halt doch meine Schmerzmittel annehmen, die sind ja für den Notfall, trotzdem sie „Chemie“ verweigert – wie ich.
Aber es gab auch erhebende Klänge. Chöre, Lieder, Sprechgesänge. Von tief unten aus den Tälern klangen Betgesänge aus den Kirchen und Freiluftkirchen, wundersame Choräle, christliche und exotische Melodien. Ich fühlte mich wie in den Tagen nach dem Erdbeben. Zum Glück ohne die schaurigen Schüttelfröste und Knallereien. Akustisch getragen. Und dann die wandernden Wächter, die mit ihren Megaphonen die Nachtstille erfüllten, Jesus oder einen Loa verkaufen wollten, das Dunkel mit prachtvollen Liedern und Tönen füllten.
Die nichtmenschlichen Laute, der Kampfhähne, die vom Untier „Mensch“ zum Töten dressiert werden, sich aber jetzt noch ihres Lebens freuen, zwischen den Bäumen umherflattern und um die Wette schreien. Im Gesamtchor von zehntausend Hähnen und von hier oben aus klingt das sogar ungemein schön. Auch die Hunde freuen sich ihres Lebens, kläffen und winseln, präsentieren ihr reiches, stimmliches Repertoire.
Aber jetzt verstummen die Laute der Natur, es beginnen die der Technik, der Naturtöter, der Generatoren, auch aus den Zeltstädten, die sogar das Klima töten. Es ist sechs Uhr und hell geworden. Zeit, ans Tagebuch zu denken. Doch anstelle des vorgesehenen Tagebuchs ist ein Nachtbuch geworden, statt eines Journals eben ein „Noktal“.
Leider kein Kommentar vorhanden!