Im Seuchen und Trümmer-Regiment in Haiti

Spital-8

Datum: 26. Mai 2010
Uhrzeit: 11:10 Uhr
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Autor: Otto Hegnauer
Sprachkurs Spanisch (Südamerika)

Sie tun auch alles, um Dir alles zu erschweren, die Loa. Fast könntest Du paranoid werden. Aber zuerst das Wichtigste: es scheint, Melissa ist über den Berg, Sie telefoniert, und sie klingt wieder „normal“. Hat Beten doch genützt? Allen Betern und Beterinnen ein Vergelts Gott. Melissa glaubt, morgen entlassen zu werden. Hoffentlich arbeitet sie dann nicht gleich wieder zu viel.

Aber jetzt ist auch die kleine, sechsjährige Aude im Spital. Deren „Parain“, schweizerdeutsch „Götti“, ich bin. Das verpflichtet. Und das darf nicht so weitergehen. „Ich habe es ja immer gesagt.“ Verzeihung für die Plattitüde. Wann lernt ihr endlich die Hände zu waschen nach dem, C (ein W für WC gibt es ohnehin nicht), nicht nackt auf dem Frühstückstisch zu sitzen, dass Sauberkeitswahn nicht nur Hirngespinst ist?

Ulli war bei der Leiterin der UNICEF und berichtet, dass unten nicht nur Typhus, sondern auch Diphtherie und Cholera grassieren und viele Kinder den Ärzten unter den Händen wegsterben. Es mangelt an Medizinern und Impfstoffen, und Impfungen außerhalb der größten Zeltlager seien ausgeschlossen. Bei dem Wassermangel und den himmelschreienden hygienischen Verhältnissen ist das ja auch kein Wunder. In der Stadt haben die gutmeinenden Geister zwar überall die kleinen, metallenen Toilettenhäuschen aufgestellt, die sind aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken. Ich frage mich allerdings, ob diese Investition tatsächlich der Hygiene zugute kommt, nach meiner laienhaften Ansicht würden doch Wasserspülen und eine Möglichkeit, die Hände zu waschen, dazugehören. Stattdessen gibt es Lager mit tausenden von Insassen, die zum Wassersuchen auf die Straße gehen müssen.

Heute haben sie einen 19jährigen Nachbarn zu Grabe getragen, gestorben an Typhus. Das ganze Quartier marschierte in langer Einerkolonne hinter dem Sarg und sang urafrikanische Trauerlieder, das geht unter die Haut. Der einfache, unverzierte Holzsarg, eigentlich bloß eine lange Kiste, wurde an der Spitze des Trauerzuges von jungen Männern getragen, mit ausgestreckten Armen hoch über den Köpfen. Die Totenkiste wurde zu den schaurigen Liedern hoch in der Luft im Kreise gedreht und dabei fast aufgeworfen, man hörte den Kadaver in der Kiste herumkollern. Sie ließen den Toten noch einmal tanzen, hunderte von Herzen wiegten sich mit ihm. Ein solcher Toter braucht wahrlich keine Blumen mehr.

Wir waren heute auch in Gressier. Es war eine Schreckensfahrt durch Trümmerfelder. An tausenden von Überresten vorbei, die manchmal kaum erkennen ließen, dass das einmal Häuser waren. An tausenden unentdeckter Toter vorbei, die noch in den gigantischen Trümmerhaufen liegen müssen. An tausenden von Zeltstädten vorbei, die Hunderttausenden als Zuflucht dienen. An langen Reihen von Latrinenhäuschen vorbei, die von der Bemühung der Restbehörden und Besetzer zeugen, einigermaßen die Gesundheit der noch Lebenden zu retten.

Die Trümmerfluren gleichen einem Schlachtfeld. Die Straße ist freigeräumt, die Stätten des Schreckens sind es nicht. Sie zeigen ihr trauriges Gesicht so, wie es am 12.Januar plötzlich entstand. Bestürzung und Entsetzen befallen mich. Ich erinnere mich, wie Mystal mit einem Motorradfahrer unmittelbar nach dem Erdbeben meinen Haus-Schuttberg besucht und berichtet hatte, das Hauptproblem seien nicht die Tsunami-Flüchtlinge gewesen, sondern die Spalten und Risse, die Straße verdiene diesen Namen nicht mehr. An der Route de Rail (Straße der einstigen Bahngeleise) lägen die Leichen meterhoch und seien nicht weggeräumt. Das musste man mit Bulldozern bewerkstelligen. Und zwischen den Schutthalden und Mauerresten immer wieder Zelte, einzeln und in riesigen Lagern.


Schließlich langen wir dort an, wo wir einst „zuhause“ waren, dort sieht es am schlimmsten aus. Mein ehemaliges, wunderprächtiges Haus und die Häuser aller meiner Nachbarn, auch das nahe Kirchlein der Zeugen Jehovas und das Schulhaus, liegen ausgebreitet wie zerknitterte Leichentücher. Viele frühere Freunde sind nicht mehr da, verschwunden oder gestorben.

Und quasi „in eigener Sache“ eine Bemerkung, zur Gestaltung meiner Kolumnen. Mein brasilianischer Freund, der Redaktor von Latina-Press, wünschte, dass ich meine Beiträge mehr tagebuchähnlich gestalte. Da ich fast täglich etwas wiedergebe und das nach Datum ordne, ist ein Journal schon beinahe gegeben. Doch es gibt reicher befrachtete Tage, da werden die Beiträge eben lang wie dieser, und ruhigere, wenn auch niemals langweilige. Dann finden unter dem betreffenden Datum allgemeinere Geschichten Platz.

Am Abend verließ leider mein indischer Freund, der „falsche Konsul“, sein Zelt auf dem Dach, und damit auch mich. Er verträgt sich zu wenig mit Mystal, dem Herrn des Hauses, die haben ihr Heu auf einer ZU anderen Bühne. Meine Vermittlungsversuche schlugen fehl. Aber wir werden uns wieder finden, irgendwo und irgendwie. Der heutige Tag war überladen, ich hoffe, meine Geschichte ist es nicht.

Photo copyright©by Otto Hegnauer/latina press

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Die exklusive Haiti-Kolumne im latina press Nachrichtenportal von Otto ‚Swissfot‘ Hegnauer. Der ehemalige Lehrer lebt seit mehreren Jahrzehnten auf Haiti und berichtet exklusiv von seinem täglichen Leben auf der Insel Hispaniola.

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