Lateinamerika: In sozialen Netzwerken organisierte Lynchmorde ansteigend

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In der Anonymität des Internets fällt es leichter, andere zu beschimpfen, sie zu beleidigen und für Taten verantwortlich zu machen, die sie in der Realität gar nicht begangen haben (Foto: Archiv)
Datum: 19. November 2018
Uhrzeit: 13:19 Uhr
Leserecho: 1 Kommentar
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In der Anonymität des Internets fällt es leichter, andere zu beschimpfen, sie zu beleidigen und für Taten verantwortlich zu machen, die sie in der Realität gar nicht begangen haben. Ein erschreckendes Beispiel dafür ist das Verbreiten von Falschnachrichten in Mexiko. Dort hatte sich der Lynchmob auf „WhatsApp“ verabredet und zwei Männer bestialisch ermordet. Diese Form der Aggression, die durch Gerüchte in sozialen Netzwerken ausgelöst wurde, wird in Lateinamerika als „Linchamento 2.0“ bezeichnet.

Dieses besondere Niveau beschleunigt sich in Lateinamerika, einer Region, die einen fruchtbaren Boden für diese Art von eigenmächtiger, illegaler Exekution tatsächlicher oder vermeintlicher Verbrecher oder unliebsamer Personen ohne anerkanntes richterliches Verfahren bietet. Eine im Jahr 2016 durchgeführte Umfrage ergab, dass Lynchmorde in Lateinamerika die Zustimmung von 32,1 Prozent der Bevölkerung hat – der Index in Brasilien liegt bei 23,5 Prozent.

„Linchamento 2.0“ erfolgt in drei Schritten: In sozialen Netzwerken werden Gerüchte über Personen verbreitet, die als Täter mutmaßlicher Straftaten bezeichnet werden. Das Lynchen der mutmaßlichen Verbrecher wird „organisiert“. Nachdem die mutmaßlichen Verbrecher gefoltert und getötet wurden, rühmen sich die Lynchteilnehmer der Aktion über soziale Netzwerke und stellten oftmals Videos der Tat ins Netz.

Zwischen 2013 und 2017 stieg die Zahl der Lynchmorde in Mexiko von 40 auf 245 Fälle. Allein in der ersten Hälfte dieses Jahres wurden 162 Lynchmorde und Lynchversuche registriert. In Kolumbien veranlasste die in den den Sozialen Netzwerken verabredete Teilnahme an Lynchattacken die Polizei in Bogotá sich dafür einzusetzen, dass die Bevölkerung nicht allen „WhatsApp“ Meldungen vertraut. Ein Bericht der privaten laizistischen Universität „Universidad Libre“ zeigt, dass 64 Prozent der Bogotános die Gerechtigkeit „aus eigener Hand“ befürworten. Zwischen 2014 und 2017 wurden mehr als 300 Menschen im Land gelyncht.

Laut Roberto Briceño León, Präsident der Nichtregierungsorganisation „Observatório Venezuelano de Violência“, billigen 66 Prozent der Bevölkerung in Venezuela das Lynchen. „Lynchen wirkt elektrisierend auf die Gesellschaft“, so León. Einer der Fälle mit größerer Rückwirkung der letzten Zeit war der von Roberto Bernal, einem 42-jährigen Küchenchef, der in Caracas gelyncht wurde. Er wurde geschlagen, mit Benzin übergossen und verbrannt. Der Grund: Bernal half einer auf dem Boden liegenden Person, die ausgeraubt wurde. Passanten hielten ihn für den Angreifer und töteten ihn.

Lynchmorde gehören in Bolivien zur Tradition der indigenen Gemeinschaften. Die Verfassung erlaubt ihnen diese Gräueltaten nicht, aber die Bundesbehörden schließen oft ein Auge, da sie sich nicht gegen die indigene Bevölkerung stellen wollen. Bolivien hat im Durchschnitt mehr als 40 Lynchmorde pro Jahr.

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  1. 1
    Peter Hager

    Lynchmorde sind die logische Folge des Versagens staatlicher Organe, deren Pflicht die Aufklärung von Verbrechen und die Strafverfolgung der Täter wäre. Doch wenn gerade diese Organe selbst einen Großteil der schlimmsten Delikte begehen oder gegen Bezahlung dulden, wie vor allem in Venezuela, ist die brutale Reaktion des Volkes nur zu verständlich. So möchte man zwar eine dringend notwendige alternative Judikative und Exekutive erschaffen, doch ohne Verstand, ohne den geringsten Versuch der Anwendung gesellschaftlicher Regeln. Mit legitimem Selbstschutz oder Gerechtigkeit hat dies nichts zu tun, eher mit dem makabren Gegenteil.

    Spontane oder organisierte Massenhysterie als Triebfeder führte noch nie zu etwas Gutem, nicht mal auf dem Fußballplatz. Die Schuldigen sollte man eher unter den Verursachern der Misere suchen, als unter den Schwachköpfen, die sich aufhetzen lassen. Denn die sind die Mehrheit und werden sich niemals ändern. Die naiveren 60-70% der Schafherde namens Menschheit lassen sich nun mal gerne von Leithammeln zu jeder Form von Schwachsinn verleiten. Dies liegt in der traurigen Natur unserer Spezies und wird seit über 10.000 Jahren von „Führernaturen“ jeder Couleur skrupellos ausgenutzt und missbraucht. Das beginnt in der Schulklasse, geht weiter im Karnickelzucht- oder Sportverein, in politischen Parteien, in Religionsgemeinschaften. Einfach überall! – Ein bekannter argentinischer Schriftsteller antwortete mal in einem Interview auf die Frage, „Wovor haben Sie Angst?“ mit den Worten: „Vor Idioten.“ – „Warum vor Idioten?“ – „Die entscheiden die Wahlen.“ – In einer halbwegs funktionierenden Demokratie ist das gerade schlimm genug. In der Anarchie gehen sie dir kollektiv an den Kragen, schon auf ein bloßes Gerücht hin.

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